| Paule und Julia | ||
D 2002, 35 mm und DVD, 83 Min., Farbe, Dolby SR | |||
BESETZUNG | |||
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STAB | |||
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BIOGRAFIE | |||
Biofilmographie Torsten Löhn 1964 in Berlin geboren. Nach dem Studium der Kunstgeschichte, Japanologie und Filmwissenschaften Aufbaustudium für Denkmalpflege in Dresden. Arbeitet als Restaurator und Bauleiter. Danach Aufnahme eines Regiestudiums an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin mit Schwerpunkt Drehbuch. 1994-1999 Arbeit als Aufnahmeleiter, Tonmann und Dozent für Filmton. „Paule und Julia“ ist sein erster langer Spielfilm. | |||
FESTIVALS / AUSZEICHNUNGEN | |||
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INTERVIEW | |||
Interview mit Torsten Löhn Wie authentisch ist die Geschichte, die Sie erzählen? Welche unterschiedlichen Recherchen sind in das Drehbuch mit eingeflossen? „Geschichte“ und „authentisch“ sind für mich Gegensätze, „Paule und Julia“ ist eine Geschichte, sie basiert nicht auf einem authentischen Fall. Mich interessiert es, Momente der Wirklichkeit glaubhaft zu einer Geschichte zu montieren. Der eigentliche Impuls, „Paule und Julia“ zu machen, kam ja aus der zufälligen Begegnung mit einer realen Person - einem kriminellen, aber nicht strafmündigen Jungen aus dem Osten Berlins. Mich hat der wegen seines Gesichtes interessiert - ein Gesicht, in das sich trotz seiner Jugend, er war knapp 13 damals, tief die Spuren des Lebens eingegraben hatten. Ich habe versucht, Schritt für Schritt sein Vertrauen zu gewinnen. Ich habe seine Mutter kennen gelernt, seine „Kumpels“, seinen Heimleiter und andere. Die Gespräche mit ihnen, das war mein „Material“ und eine ganz neue Welt für mich - die Geschichten sind zum Teil unglaublich gewesen. Viele Figurenelemente und viele Details sind in „Paule und Julia“ eingeflossen. Außerdem gab es, als das erste Exposé 1999 entstand, gerade viele Zeitungsberichte über rumänische Kinderbanden (ich habe alles gesammelt, was mit Jugendkriminalität zu tun hatte), und das hat mich sehr berührt. Da geht es um Kinder, die wirklich aufs übelste behandelt werden. Die wurden eingeschleust, in Polen zu Taschendieben ausgebildet und hier versklavt unter den fürchterlichsten Bedingungen. Ich habe auch einen hochrangigen Polizisten kennen gelernt, der mir sehr bereitwillig Auskunft gegeben hat über die Zusammenhänge, auch von den Strafen, die den Kindern drohen, wenn sie sich mit der Polizei einlassen. So sammelte für meine Geschichte. Auch leichtere Sachen - so hatten einmal in Berlin zwei Kids auf einer Baustelle einen 100.00-Mark-Schaden angerichtet - was in der „Baggerszene“ Verwendung findet - und ließ das in den Film einfließen. Also noch mal: immer wieder nach authentischen Elementen suchen, die die Fiktion beleben, bereichern und glaubhaft machen, so habe ich gearbeitet. Wie haben Sie die jugendlichen Darsteller für diesen Film überhaupt gefunden? Die Besetzung des Paule stellte die zentrale Herausforderung dar. Es geht ja um Gesichter, und dass die oft etwas erzählen, was man mit dem „Spiel“ nicht erzählen kann. Ich hatte auch oft daran gedacht, das ursprüngliche Vorbild für die Figur des Paule zu besetzen, aber das wäre bei den Drehbedingungen und überhaupt ein sehr großes Risiko gewesen - und dann war er auch plötzlich verschwunden, nicht mehr aufzufinden. So suchte ich während eines viermonatigen Castings an über 80 Berliner Real- und Gesamtschulen nach dieser Figur, wobei ich über 8.000 Schüler, meist aus dem Ostteil Berlins sah. Ein geeigneter Paule war leider trotzdem nicht darunter, aber ich fand mit dem damals 13jährigen Arnel Taci die Idealbesetzung für die Figur des Arnel - und gleichzeitig die komplette Besetzung für die Gang. Oona Devi Liebich hatte ich in CRAZY gesehen und es gab damals wohl kaum eine bessere Besetzung für die Julia. Der 18jährige Marlon Kittel wurde schließlich meine Besetzung für den Paule. Er hatte vorher in FELSEN von Dominik Graf und in ANNA WUNDER von Ulla Wagner gespielt. Fließt diese Suche nach dem Authentischen auch in die Darstellerarbeit?! Der Darsteller von Paule, Marlon Kittel, hat für mich in der äußeren Erscheinung sehr viel von der Figur. Er musste etwas Viriles haben, glaubhaft vorgeben können, älter zu sein und dann soll der Zuschauer denken, ach, der wird gerade erst 16. Ich habe versucht, ihn in der Vorbereitung mit Berliner Straßenjungs zusammenzubringen, richtig „harten Burschen“. Nicht wegen des Dialekts, sondern wegen der Art, wie sie sich bewegen. Ich habe ihn viel beobachten lassen auf dem Berliner Alexanderplatz und ihn ermuntert, Details auszuprobieren, wie laufen die Jungs zum Beispiel, wie halten die eine Zigarette, in welchem Rhythmus spucken die beim Reden auf den Boden. Es war auch wichtig, Marlon mit Arnel zusammenzubringen, damit die beiden glaubhaft Kumpels spielen konnten. Ich habe sie zum Beispiel in ihrem Filmkostüm über die Friedrichstraße auf und ab laufen lassen, um potentielle Raubopfer zu verfolgen - um dieses Diebes-Gefühl zu entwickeln. Gleichzeitig habe ich sie verfolgt und wenn ich sie erwischen konnte, hatten sie verloren. So waren beide stets auf der Hut, wie ich es von Dieben erwarten würde. Einmal sind sie von mehreren Zivilpolizisten während einer Probe gestellt worden, als sie vermeintliches Diebesgut in einen Müllcontainer schmissen. Da wusste ich, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Oona hat jeden freien Tag dazu genutzt, in der Landsberger Allee Kunstspringen zu trainieren, hat sich mit den Leistungssportlerinnen da angefreundet und so bestimmte Details - wie bewegen die sich, warum haben die Bandagen um die Handgelenke, welche Dehnungsübungen machen die – kennen gelernt. Wir sind überall auf große Bereitwilligkeit gestoßen, von der „eigenen Welt“ etwas abzugeben, beim Kaufhausdetektiv, bei den Turmspringerinnen ebenso wie bei den Schmuckverkäufern oder auch bei unseren teils „schweren Jungs“, die die Gangmitglieder mimen. Jede Frau, die auf dem Weg zur Arbeit ist und zulässt, dass wir sie bei unseren quasi-dokumentarischen Aufnahmen filmen dürfen, bringt etwas Wichtiges ein in den Film, ein Quäntchen Wirklichkeit, das die Geschichte bereichert und glaubwürdiger macht. Dass ist viel mehr als ein Komparse leisten kann, der seit acht Stunden auf seinen Auftritt wartet und weiß, dass er etwas spielen muss. Der Film zeigt zwei unterschiedliche Perspektiven auf das Leben. Die von Julia, die aus wohlhabendem Hause stammt, und die von Paule, der aus einfachen Verhältnissen kommt. Was verbindet die beiden? Zunächst suchen beide danach, - obwohl von sehr unterschiedlichem sozialen Status - wahrgenommen zu werden. Jeweils ein Elternteil ist nur noch da, und sowohl Paules Mutter als auch Julias Vater sind überfordert, wobei wir das bei Julia viel stärker betont haben als bei Paule. Anders als Julia nimmt Paule seine Situation auch anfangs gar nicht wahr - er glaubt von sich, glücklich zu sein, braucht aber den permanenten Thrill, um nicht auf sich selbst zurückgeworfen zu werden. Die reiche Einkaufsstrasse wird zur Schnittmenge der beiden Welten - Jagdgebiet für alle drei - für Julia als Konsum-Ort Ersatz für Zuwendung, für Paule Abenteuerspielplatz, für Arnel Überlebensort. Es ist nicht das Ähnliche, was die beiden verbindet, sondern das Fremde, ja, paradoxerweise das, was sie auch schließlich trennt: Julia ist eine Art Stellvertreterfigur für mich und den „normalen“ Zuschauer, für eine bürgerliche Welt, die sich für den jungen Wilden begeistert - eine Art Huckleberry Finn der Einkaufsstrassen. Paule fragt sich nicht, ob das oder jenes gefährlich oder moralisch verwerflich sei - er macht es einfach, lebt schnell und direkt, ist scheinbar frei. Paule ist nicht von Julias Reichtum angezogen, wohl aber ganz instinktiv von ihrer Schönheit und vor allem von ihrem Mut, der spürbar stärker ist als seiner - denn sie ist sich ständig bewusst, muss ständig gegen etwas ankämpfen, ob dass die Höhe des Sprungturms ist oder ihre soziale Prägung. Bis die Kehrseite von Paules Unmittelbarkeit zu Folter und Tod von Arnel führen. Auch die gutgemeinten Ratschläge Julias bringen Verderben. Dass sie in ihrer Welt nichts gegen die Polizei einzuwenden hat, ist nachvollziehbar. In Paules Welt kann es tödliche Konsequenzen haben, sich auf die Polizei zu verlassen. Und es wäre auch ein ganz normaler Liebesversuch zwischen zwei Welten, wenn hier nicht durch diesen Versuch das Leben Arnels ausgelöscht würde - also ein existentieller Preis bezahlt werden müsste für diesen Versuch. Besteht nicht bei der Darstellung der Ausländer-Gang, die ja den bosnischen Jungen auf brutalste Weise misshandelt, die Gefahr, Vorurteile gegenüber Ausländern zu bestärken? Iliya ist ja ein Verwandter von Arnel, sein Cousin und wie er, Bosnier. Darin liegt für mich auch die Antwort auf diese Frage - Arnel, eine Figur, der wir mit großer Zuneigung folgen, ist ebenfalls Bosnier. Es ging mir also keinesfalls darum, zu zeigen, Bosnier oder Ausländer generell sind so und so. Für mich ist die Nationalität auch austauschbar, wichtig aber war, dass es um Fremde ging, Fremde, die in einer ihnen feindlichen Umgebung leben müssen, die noch weiter am Rand der Gesellschaft stehen, noch existentieller bedroht sind als Paule. Warum gibt es kein Happy End? Ich glaube, das Happy End gibt es deshalb nicht, weil ich eben so einen Jungen kennen gelernt und den Unterschied zu einer bürgerlichen Welt sehr deutlich gespürt habe. Mit dem Jungen im Hinterkopf hätte ich es als verlogen empfunden, wenn Paule und Julia zusammengefunden hätten, und gemeinsam gegen den Horizont laufen. Das verweigerte Happy-End gibt dem Film auch ein quasi-politsches Element, gerade weil man es sich so wünscht: es gibt eben keine Gleichheit - und durch unsere Gesellschaft geht ein tiefer Graben. Die Gefahr für die Liebe kommt nicht wie bei „Romeo und Julia“ von Außen, sondern aus den Köpfen der Helden, vor allem aus dem Julias. Man kann es aus ihrer Perspektive verstehen, dass sie einer Liebe keine Zukunft gibt. Ich finde nun, man sollte schon immer zeigen, wie schlecht unsere Welt ist. Aber man sollte auch zeigen, warum man in ihr lebt. Bei „Paule und Julia“ war mir die Verweigerung des Happy Ends immer wichtig, wahrscheinlich ist es das auch, es schließt den Film auf eine besondere Art zusammen. Welche Rolle spielt die Musik in ihrem Film? Ich finde Musik im Film ungeheuer wichtig und auch ungeheuer schwierig - man muss den Weg finden zwischen emotionaler Führung (wo sie unstreitig die zentrale Rolle hat) und unausgesetzten akustischem Terror, wie sie jetzt wieder von fast jedem amerikanischen Film gemacht wird. Wir haben schon im Drehbuch Musik notiert, wenn sie szenische Funktion hatte, wie „Geh zu Ihr“ von den Puhdys in der Party-Szene, oder ich hatte immer ein Stück gehört, als ich eine bestimmte Szene schrieb, weil es zur jeweiligen Atmosphäre passte. Mein Bruder, Lars Löhn, hat die Musik für „Paule und Julia“ komponiert. Ich finde, Lars hat es geschafft, eine sehr besondere Musik zu schreiben, die einen im wahrsten Sinne aufhorchen lässt, gleichzeitig dient sie dem Film im besten Sinne bei der emotionalen Führung. Weil es ein Film ist, der vor allem junge Leute ansprechen soll, haben wir schon früh an einer „Song-Ebene“ gearbeitet. Wir wollten mit möglichst jungen Berliner Bands zusammenarbeiten: „Kerosin“ kannte mein Bruder persönlich, zu den Rockabilly-Bands haben wir während der Drehvorbereitungen Kontakt aufgenommen. Ich denke, das neben der eigentlichen Filmmusik Songs eine große Kraft entwickeln können, sie haben manchmal emotional eine noch größere Wirkung als der Score, selbst wenn man die nicht richtig versteht, kommt eine Art instinktives Verständnis zur Geltung, das noch etwas mehr in den Film hineinbringt, teilweise auf mehreren Ebenen gleichzeitig. Wir haben uns wirklich viele Gedanken gemacht, deshalb freut es mich besonders, dass die Filmmusik den ersten Preis bei der Filmmusik-Biennale in Bonn erhalten hat. Wie war ihre Zusammenarbeit mit dem Kameramann? Ich hatte das Glück, mit Frank (Amann) vorher schon einmal zusammen gearbeitet zu haben, bei dem Kurzdokumentarfilm „Ki in Kreuzberg“, bin froh, dass ich mich für ihn, also für jemandem aus meiner Generation, entschieden habe, vor allem, weil wir uns gegenseitig anstacheln konnten, mutiger zu sein, neue Lösungen zu suchen. Wir hatten schon früh Gary Oldmans „Nil by Mouth“ für uns entdeckt und fühlten, dass da ein verwandter Geist am wirken war - Rauheit im Bild, ästhetische Härten, aber absolut an den Menschen und ihren (innerlichen wie äußerlichen) Bewegungen interessiert. Eine Kamera mit langer Brennweite, die sich oft mit behutsamen, kaum merklichen Zooms an der Bewegung der Protagonisten orientiert, schien uns ideal zu sein für das Sujet, ging es doch in „Paule und Julia“ um Diebe, ihre Blicke und Bewegungen. Die Bewegung im Bild bekommt auch etwas Nervöses, Fiebriges. Die lange Brennweite mit den teils rasanten Anschwenks unterstützte das authentische „Es-geschieht-in-diesem-Augenblick“-Gefühl, und konzentrierte den Blick auf unsere Protagonisten. Eine Art Topographie unserer Figuren hatten wir auch entwickelt: Paule sollte ja aus dem Osten kommen und Julia aus dem Westen von Berlin; das hat die Bewegung im Bild - rechts/links oder links/rechts - immer mit beeinflusst. Neben den langbrennweitigen Einstellungen arbeitete Frank mit einer instinktiv geführten Handkamera, die die jeweilige emotionale Situation optimal umsetzte. Den Figuren folgen, gleichzeitig durch das Einfangen von realen Neben-Situationen der Fiktion eine authentische Atmosphäre zu geben (Frank nannte das „Vererden“), das war unser Gedanke. Wir schreckten auch nicht vor Dunkelheit mit satten Schwärzen, Überstrahlungen und Falschfarbigkeit zurück, immer im Bewusstsein, eher fürs Kino als fürs Fernsehen zu drehen. Zentral sollte dabei der Unterschied zwischen Hell und Dunkel herausgearbeitet werden; wobei wir das Helle Paules Welt zuordneten - es sollte als gefährliches, unwirtliches Jagdgebiet erscheinen. | |||