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  • Oskar und Leni

    D 1998, 35mm, s/w, 90 Min.

    BESETZUNG

    Oskar
    Leni
    Ella Grothe
    Heinz
    Tanja
    Fritz Grothe
    Lenis Schwester
    Christian Redl
    Anna Thalbach
    Elisabeth Trissenaar
    Reiner Heise
    Nadja Engel
    Günther Junghans
    Wookie Meyer

    STAB

    Buch und Regie
    Kamera
    Schnitt
    Musik
    Petra Katherina Wagner
    Peter Polsak
    Erik Stappenbeck
    Simon Jeffes performed by Penguin Cafe Orchestra







    INTERVIEW

    Jörg Becker: „Der Film beginnt damit, daß Oskar aus dem Gefängnis entlassen wird - meiner Ansicht nach wie ein kleiner, lakonisch angedeuteter Film-im-Film, mit Zitaten aus dem Gefängnisfilm-Genre; dann sieht man Leni in ihrer tagtäglichen Umgebung und in einer etwas abgetragenen Vergnügungswelt, die auch eine Arbeitswelt ist, abends im Tingeltangel. Mit den beiden Personen gibt es zwei Erzähllinien, die ganz traumhaft aufeinander zulaufen, sie sind parallel montiert, bis zu diesem Moment, nach etwa dem ersten Drittel des Films, in dem sie tatsächlich einander begegnen, das geschieht auf einmal ohne große Vorbereitung, Auge in Auge, ist es um sie geschehen. Von da an gibt es so eine Spiralbewegung, umeinander herum, einander zu suchen und zu verfehlen.“

    Petra K. Wagner: „Dieses Verfehlen gibt es auch schon vorher. Die beiden gehen dicht aneinander vorbei, ohne sich zu sehen. Sie stehen gemeinsam an der Bushaltestelle, ohne sich anzusehen, und sie sind sich wirklich sehr nahe - er geht in die U-Bahn, und sie kommt aus der U-Bahn, und sie müßten sich auf der Treppe begegnen - auf solche Situationen kam es mir an. Das ist für mich die Großstadt: Man begegnet jeden Tag Leuten, und plötzlich passiert es, daß zwei Wege sich kreuzen, und von diesem Punkt an ist die Welt nicht mehr so, wie sie vorher war. Wenn man die beiden in der Bahn sieht, wie sie sich anschauen, wie sie sich küssen, dann erkennt man, was mit ihnen geschieht.
    Es galt, diesen Moment zu zeigen und zu inszenieren, in dem das Leben sich ändert. Es gibt durchaus die Möglichkeit, um diesen Augenblick zu wissen, ihn zu erkennen und seine Chance zu nutzen, also das, was Leni wirklich versucht. Sie hätte auch in einer Gleichgültigkeit verharren oder nur ihre Träume ein bißchen bereichern können um das Antlitz dieses Mannes, und so hätte sie womöglich ihr Leben lang von Oskar nur geträumt. Stattdessen begibt sie sich aber auf die Suche. Ich wollte Leni als eine Frau zeigen, die es gewohnt ist, vom Leben nicht gerade verwöhnt zu sein, und die es auch gewohnt ist, ihre Träume für sich zu behalten und mit ihnen ganz gut zu überleben. Und wenn sie nun aber diesem Ereignis nachgeht und sich selbst auf die Suche macht, dann fängt für mich die eigentliche Geschichte an. Auf einmal geht es ihr um etwas, da ist
    ein Bruch im Leben, über den sie erfährt, was wirklich in ihr steckt und was ihr, die sich bis dahin hat treiben lassen, ihr Leben bedeutet - sie kann es ändern. Und schließlich: Diese Momente, wenn man sie verpaßt oder nichts aus ihnen gemacht hat, dann bilden sie gar keine Geschichte, dann erzählen sie nichts.“

    Jörg Becker: „Das Glück dieses Augenblicks, diese Energie zwischen den beiden ist auch sichtbar gemacht in all den Stadtbewegungen an all diesen unbestimmten Orten, in der uncharakteristischen Großstadt, Stadt schlechthin. Dieses mögliche Glück, die Sehnsucht zwischen den beiden, überträgt sich auf die Orte, man empfindet das immer zusammen, man sieht die Stadt mit anderem Blick, wenn da zwei Sehnsüchtige selbstvergessen aufeinander zudriften.“

    Petra K. Wagner: „Der Film hätte auch in einer anderen Metropole spielen können, wichtig war für mich nur ein sehr dichtes Verkehrsnetz. Es hätte auch eine Straßenbahn sein können, obwohl ich U-Bahn besser finde, denn dort hat man keinen Ausblick, wo ich sie sich treffen lasse. Man sieht nicht nach draußen, während man sonst noch die Außenwelt hat. Es war für mich wichtig, daß es eine Großstadt ist. Ich habe immer versucht, Orte zu finden, an denen man Berlin erkennt, die aber auch jenseits von diesem Stadtbild sein können, irgendwo auf der Welt.“

    Jörg Becker: „Da zeigt sich ein selbstverständlicher Umgang mit der Metropole in deinem Film, also Berlin-kenntlich zu filmen, und dann auch wieder mysteriös. Ich habe mich an Pasolini erinnert, was bestimmte Orte betraf, man könnte an Randzonen der Stadt denken, die der Film berührt, in diesem ganz traurig-poetischen Blick auf ein Karussell, ein Niemandsland in dem etwas staubigen Weiß, auf die Hochhäuser von hinten, oder auf einen seltsamen Flecken, der im Grunde Bauland war und mitten im Zentrum gelegen ...“

    Petra K. Wagner: „Wir haben unsere Orte fast alle mitten im Zentrum gefunden - es lag da wie eine einzige Brachlandschaft, überall an den Ecken traten Baulücken auf, und so war das auch eine sehr gute Zeit, diese freien Flächen zu finden, über die man einen weiten Blick hat und jenseits dieser touristischen Plätze, an denen die Baukräne stehen.“

    Jörg Becker: „Mein erster Eindruck von dem Film war der, daß
    ‘lifestyle’, also erkennbare Gegenwart, in deinem Film überhaupt keine Rolle spielt und spielen soll, darüber setzt du dich ganz sou ve rän hinweg, und man befindet sich innerhalb deines Films in einem Zeitraum, der ganz unspezifisch die letzten fünfzig Jahre ausmachen könnte, vielleicht noch weitergehend. Das Dach der Tortenfabrik mit den rohen Ziegelmauern mag an Zeitzeichen des Weimarer Kinos erinnern, das unbestimmbare Bauland an ‘Deutschland im Jahre Null’ ...“


    Petra K. Wagner: „Dieser Aspekt der Zeitlosigkeit war von vornherein ein Teil des Konzepts; deshalb habe ich mich auch für Schwarzweiß entschieden. Diesen Stoff wollte ich in Schwarzweiß drehen, um den Zeitgeist rauszuhalten, denn mit Farbe und zugleich dem low-budget-Etat, in dem ich filme, hat man immer die Zeitgeistfarben mit drin, das erkennt man an den Autos usw., ob es die 70er, 80er oder 90er Jahre sind, an den Klamotten, die die Leute tragen, und ich war einfach auf sehr viele Sachen aus, die man überhaupt nicht inszenieren kann, sondern die man findet. Außerdem waren unser Licht- und unser Kadrage-Konzept so, daß wir immer eine der beiden Hauptfiguren ins Bildzentrum gesetzt haben, und andere sind am Rand, weiter weg, teilweise abgedreht von der Kamera oder angeschnitten - das waren Dinge, die für uns vorher feststanden.“

    Jörg Becker: „Es gibt in dem Film einen ständigen Ortswechsel, der dem Wechsel zwischen Oskar und Leni entspricht, dieser Rhythmus kommt deutlich heraus. Im Kino mag der Eindruck des einzelnen poetischen Bildes stärker sein; ein andermal tritt der Dialogeffekt stärker hervor.“

    Petra K. Wagner: „Es ist ein Film, der am Schneidetisch noch einmal völlig neu entstanden ist, aber es hatte wirklich diesen Umweg über die Demontage der ersten Schnittfassung gebraucht, um ihn so zusammenzusetzen und um ihm diesen Rhythmus zu geben. Vermutlich ist das über ein Schreiben gar nicht möglich, so eine Parallelmontage in bits and pieces vorzuformulieren.“

    Jörg Becker: „Der Gedanke dieser Liebe, dieses Liebesaugenblicks, dieses Ereignis war Kern des Drehbuchs, das hast du selber erfahren?“

    Petra K. Wagner: „Das war eine Geschichte, die ich beobachtet habe. Es ist schon ziemlich lange her, daß ich zwei Leute in der U-Bahn gesehen habe, die jeder für sich eigentlich nicht sehr auffällig waren. Die beiden haben sich in die Augen geschaut, und es war wirklich ‘um sie geschehen’, da brannte die Luft zwischen ihnen - und sie haben nichts daraus gemacht. Sie saßen lange einander gegenüber und haben sich angeschaut, und zwar so intensiv, daß man einfach spürte, was zwischen ihnen los war. Dann kam die Station, wo er aussteigen mußte, und er tat es sehr zögerlich, ist draußen stehengeblieben, hat die Türen zugehen lassen, hat sie wegfahren lassen. Ich bin im Wagen bei der Frau geblieben. Die Frau hatte das alles geschehen lassen, aber sie war so verzweifelt, sie war so unendlich traurig, weil sie genau wußte, diese Chance, die sich da auf einmal eröffnet hatte, - die Würfel nochmal neu zu werfen, ihrem Leben eine andere

    Richtung zu geben -, die hatte sie vertan. Ich schreibe solche Erlebnis fetzen von Geschichten immer auf - und bei dieser wußte ich, die würde ich neu schreiben, und mit einem anderen Schluß.
    Irgendwann begreift Leni, daß sie die Suche nach Oskar aufgeben muß. Die Begegnung mit ihm hat eine riesige Projektionsmaschinerie in Gang gesetzt, und das erkennt sie plötzlich. Sie sagt, sie hat einen Mann gesucht, den es gar nicht gegeben hat. Erst da ist Leni in der Lage, einen Schritt weiter zu gehen und ihn wirklich zu finden, von daher habe ich auch dieses Endbild inszeniert. Ich wollte nicht, daß die beiden sich berühren oder sich küssen oder sich anschauen. Es gibt ja nur diesen einen Blick von ihr zu ihm, halb belustigt, halb zweifelnd, und seinen Blick, der nach vorne gerichtet ist, lächelnd und ein bißchen wissend, da fängt am Ende ihre eigentliche Geschichte an, jenseits von jeder Projektion.“

    Jörg Becker: „Romeo und Julia erscheint wie eine theatralische Spiegelung dessen, was im Film passiert. Ist dir die von vornherein bewußt gewesen?“

    Petra K. Wagner: „Romeo und Julia habe ich aus zwei Gründen in die Geschichte gesetzt. Zum einen ist dieses Stück einfach die Liebesgeschicht schlechthin. Dann ging es mir auch um den Text, um die Worte. Alles was Oskar rezitiert, auch die Texte, die von der Theatergruppe gesprochen werden und von ihr zum Schluß, sind aus der berühmten Balkonszene, und ich finde diese Worte wunderschön. Ich wollte diese Worte innerhalb eines Rahmens gesprochen hören, der gar nichts mit der Theaterbühne zu tun hat, denn wenn man diese Worte im Theater hört, dann berühren sie einen sehr wenig. Auf der einen Seite denkt man, man hat sie schon so oft gehört, und auf der anderen Seite haben sie keinen wirklichen Bezug zum eigenen Leben. Was ist, wenn diese Worte wirklich in der U-Bahn gesprochen werden, in diesem Krach, mit schrillem Schienenquietschen, mit all den Leuten drumherum und der Ansage, die mitten in den Text platzt. Man konnte nicht sicher sein, ob die Worte wirklich verständlich sind, d.h. nicht im akustischen Sinne, sondern ob sie Leni, an die sie gerichtet sind, in der Szene tatsächlich auch etwas sagen können.“

    Jörg Becker: „Der Text von Shakespeare hat sich in Oskars Kopf festgesetzt, weil er von klein auf dabei war, wenn seine Mutter probte und spielte; nun hört er ihn bei den Theaterproben wieder - da zeigt sich ein träumerischer und zugleich ein direkter Zugang mit den Klassikern, die ins Leben geholt werden, und zugleich eine Kindheitserinnerung.“



    Petra K. Wagner: „Die Worte sind für ihn Realität. Ich habe mir Oskar immer als einen Menschen vorgestellt, der sehr große Einsamkeit kennt und sie ertragen gelernt hat. Für ihn ist es natürlich von Vorteil, wenn er einen solchen Text hat, mit dem er sich beschäftigen kann. Die Worte kennt er, sie bilden einen Text, von dem ich denke, daß er unentwegt in seinem Kopf kreist, und sobald er in dieses Theater kommt, und er hört ihn von neuem, frischen sich damit seine Erinnerungen auf. Der Text trägt außerdem ein wenig Oskars Konflikt aus, er ist wieder in die Welt gekommen, hört Shakespeare, und dessen Sätze sind nicht mehr nur in seinem Kopf, sondern er hört sie auch von außen, deshalb hab ich ihn an einer Stelle sagen lassen: ‘Die Worte sind die gleichen’. Es kommt für ihn nicht auf den Rahmen an, für ihn haben die Worte eine eigene Bedeutung, sie sind für ihn da, sie gehören zu seinem Alltag. Wenn er den Shakespeare-Text spricht, dann stellt er sich dazu nicht extra auf eine Bühne. Es geht bei ihm um einen Zustand innerer Konzentration, um eine innere Welt, die nach außen dringt, so widerfährt ihm das ja auch in der
    U-Bahn-Schlüsselszene; ein wenig lässt er sich von seinen eigenen Worten einlullen. Mit seinem Blick in Lenis Augen spricht Oskar die Worte Shakespeares, und plötzlich gewinnen sie für ihn einen neuen Sinn: Auf einmal erlebt er, was sie sagen können.“

    (Das Gespräch zwischen Petra K. Wagner und Jörg Becker fand am
    24. Februar 1999 in Berlin statt)