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Deutschland 2008 / Farbe / 35 mm / digital / 1:1,85 / Dolby SR / 92 Minuten Prädikat: "besonders wertvoll" FSK: Freigabe ohne Altersbeschränkung | |||
BESETZUNG | |||
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STAB | |||
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BIOGRAFIE | |||
Geboren in Bromberg (Bydgoszcz), aufgewachsen in Stuttgart. Studium der Kunstgeschichte. Ab 1969 erste Filme über die Studentenbewegung in Film-Cooperativen. Mitarbeit bei der Stiftung Deutsche Kinemathek Berlin, Regieassistenzen, am meisten gelernt bei Hans-Rolf Strobel, Ula Stöckl, Edgar Reitz, Mitarbeit bei KINO ZWEI, Regie Edgar Reitz, ZDF. Seit 1975 Arbeit als Regisseurin für ARD und ZDF, 1979 Gründung der eigenen Produktionsfirma. Über 60 Fernsehproduktionen zu sozialen Fragen und zur deutschen Geschichte, lange Kinodokumentarfilme zur Verfolgung in der NS - Zeit von deutschen Zigeunern (Sinte) und zum Widerstand mit diversen Preisen und Auszeichnungen, Mitglied der Akademie der Künste Berlin und der European Film Academy | |||
FILME | |||
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TEXTE ZUM FILM | |||
Zu den Zeugen __________________________________________________________________________ Der Widerstand der Weißen Rose wird häufig nur mit den Geschwistern Scholl gleichgesetzt, doch waren Menschen in ganz Deutschland aktiv. Gegen Eroberungs-und Vernichtungskrieg, gegen den Hagel der Nazipropaganda verteilten sie sechs Flugblätter, verfasst von Hans Scholl, Alexander Schmorell und Professor Kurt Huber. Die Weiße Rose - das war ein Freundeskreis von zumeist jungen Menschen aus der bürgerlichen Gesellschaft, die sich erhoben und das Unrecht in ihren Flugblättern laut anprangerten, Flugblätter, die zum sofortigen Ende des Krieges aufriefen und zum Sturz des Regimes. Die Aufrufe wurden als Schwerverbrechen gewertet, die führenden Mitglieder, die Verfasser der Flugblätter und ihre engsten Helfer Sophie Scholl, Willi Graf und Christoph Probst wurden 1943 zum Tod verurteilt. Laut Volksgerichtshof handelte es sich um "den schwersten Fall hochverräterischer Flugblattpropaganda, der sich während des Krieges im Altreich ereignet hat. Aus diesem Grunde und wegen der Persönlichkeit der Täter hat das Verfahren erhebliches Aufsehen erregt". Fünf dieser Akteure, die im Zweiten Weiße Rose Prozess des Volksgerichtshofs angeklagt waren, erleben wir im Film. Es sind die Geschwister Hans Hirzel und Susanne Zeller-Hirzel, es sind Franz J. Müller, Heiner Guter und die Freundin von Hans Scholl, Traute Lafrenz-Page. Diese Widerstandskämpfer haben noch Zeugnis abgelegt über das mutige Verhalten der Ermordeten, ihr Auftreten vor Gericht, über die Wesenszüge der Toten, und besonders über ihre eigenen Motive, „Nein!“ zu sagen. Sie sprechen offen über ihre Gefühle, ihre Ängste und Taten und sie stellen den zum Teil falschen Gestapoprotokollen, den verlogenen Rechtfertigungen der Nachkriegszeit, die wohlbehalten in unseren Archiven liegen, ihre Sicht der Dinge entgegen. Möglicherweise eine subjektive Sicht. Drei weitere Mitglieder aus dem Freundeskreises der Weißen Rose, die kurzfristig in Gestapohaft waren, berichten über die Ermordeten und wie sie deren Widerstandsarbeit unterstützen. Es sind Lilo Fürst-Ramdohr, die den Gestapoverhören standhielt und entlassen werden musste, es sind Jürgen Wittenstein und Nikolay Hamazaspian. Diese Freunde und Freundinnen halfen bei der Flucht Alexander Schmorells, informierten die Familien und unterstützten sie. Chronisten der Weißen Rose sind auch die Familienmitglieder wie die damals 12-jährige Tochter von Professor Huber, Birgit Weiß-Huber, die die Verhaftung ihres Vaters mit ansehen musste, ist die Schwester von Hans und Sophie Scholl, Elisabeth Hartnagel, die die Radikalisierung ihrer Schwester Ende 1942 miterlebte, uneingeweihte Zeugin der Widerstandsarbeit ihrer Geschwister wurde. Chronistin ist die Schwester von Willi Graf, Anneliese Knoop-Graf, die Hans Scholl kurz bei der Gestapo sah und die Untersuchungs-und Sippenhaft ertrug. Der Halbbruder Alexander Schmorells, Erich Schmorell und der Halbbruder Christoph Probsts, Dieter Sasse, erzählen von Oppositionsgeist und der Kriegsgegnerschaft der beiden Freunde. Christoph Probsts Frau, Herta Siebler-Probst, erinnert sich an die Empörung ihres Mannes über die Vernichtung von Tausenden von Soldaten in Stalingrad. Die Tochter Professor Hubers spricht über den letzten Besuch bei ihrem Vater. Sie alle erfahren nach dem Tod ihrer Angehörigen die Demütigungen der SS und die Kälte ihrer Mitmenschen. Warum überhaupt noch einen Dokumentarfilm über die Weiße Rose? Von Katrin Seybold _______________________________________________________________________ Die Arbeit am Film begann vor mehr als zehn Jahren. Warum ich 1999 immer noch einen Film über die NS-Zeit machen wollte? Es war der allerletzte Moment für eine „lebendige“ Aufnahme der Zeugen. Sollten unsere Nachfahren nur die Gestapoprotokolle und Volksgerichtshofsakten zur Verfügung behalten? 1998, bei den Dreharbeiten zu unserem Projekt „NEIN ! / Zeugen des Widerstandes in München 1933- 1945“ mit der Schwester Willi Grafs fiel mir auf, wie viel gutes Interviewmaterial ich schon mit Beteiligten, oder besser Mitgliedern der Weißen Rose gedreht hatte, mit Lieselotte Dreyfeldt und mit Susanne Hirzel, Interviews, die ich in diesem und auch dem anderen Film von 1994 „MUT OHNE BEFEHL / Widerstand und Verfolgung in Stuttgart 1933-1945“ gar nicht verwenden konnte. Ich redete so dahin, daß ich eigentlich gern einen Film über die Weiße Rose machen würde. Frau Knoop-Graf antwortete mir lakonisch „Da müssen sie sich aber beeilen“. Beeilt habe ich mich, aber es hat länger gedauert. Ich habe versucht, den Widerstandskämpfern und ihren Angehörigen dadurch, daß sie ausführlich über ihre jeweiligen Erlebnisse, ihre Beweggründe für ihre Gegnerschaft, sowie die Verarbeitung ihrer Erfahrungen mit dem Dritten Reich und ihre bitteren Erfahrungen in der Zeit danach berichten können, der nötige, bis heute oft nicht erfolgte Respekt vor ihrem politischen Engagement und ihrer Zivilcourage erwiesen werden. Für ihren Mut und ihre Opferbereitschaft ernteten außer Sophie Scholl die Frauen des inneren Kreises der Weißen Rose nichts, bis heute bleibt Traute Lafrenz-Page, Susanne Zeller-Hirzel, Lilo Fürst-Ramdohr und den Familienmitgliedern Elisabeth Hartnagel und Birgit Weiß-Huber die Anerkennung der breiten Öffentlichkeit versagt, fast niemand kennt ihre Namen. Director's Note Von Katrin Seybold __________________________________________________________________________ Nur Weniges ist außer den Flugblättern vom Widerstand der Weißen Rose noch sichtbar. Es gibt natürlich keine Aufnahmen ihrer heimlichen Flugblattverteilung, keine Fotos der Wandparolen, keine Bilder von der Herstellung der Flugblätter, keine Gruppenfotos der Leseabende oder irgendeinem anderen Treffen. Sichtbar ist ihr Widerstand heute nur noch in ihren Gesichtern, wenn sie erzählen. Er scheint sichtbar zu werden in ihren Jugendfotos, da sieht man außergewöhnliche Menschen. Ein Gesicht, das nicht alle hätten haben können in der Nazizeit. Wenn die Zeugen aus ihrer heutigen Sicht erzählen, dann klingt es so, als erzählten sie etwas Selbstverständliches. Es klingt so, als hätte jeder von uns so handeln können wie sie. Als sei Widerstand so etwas Einfaches wie, Lesen, Schreibmaschine schreiben, den Zug nehmen. Sie fallen nicht in die Rolle des Helden, sie stehen an keiner Spitze des Zuges bewaffneter Arbeiter oder unterdrückter Mütter. Ich ging auf Spurensuche nach Sichtbarem. Übrig geblieben sind die Fotos des Freundeskreises und Fotos aus Russland von Jürgen Wittenstein. Übrig geblieben ist die Schreibmaschine, mit der Alexander Schmorell die ersten vier Flugblätter schrieb, sind eine Handvoll der Flugblätter, abgeliefert von ängstlichen Untertanen, weniger als zehn Briefumschläge mit denen die Flugblätter verschickt wurden, die Briefumschläge beschafft und mit Schreibmaschine beschriftet von Alexander Schmorell, von den Geschwistern Scholl, von Hans Hirzel und Franz J. Müller. Das ist alles. Danach suchte ich nach Sichtbarem der Täter. Das Hitlerregime hat versucht, jedes Wissen über die Widerstandsbewegung zu verheimlichen. Auch durch den Krieg wurden Unterlagen vernichtet. Unter den Stempeln "Geheim", "Haft !" und "Eilt sehr!", unter Aktendeckeln finden sich Telegramme des Volksgerichtshofs und Schriftverkehr des Reichsinnenministeriums mit Gestapo und anderen Behörden. Auch Gestapoprotokolle sind erhalten, wobei nie vergessen werden darf, aus wessen Sicht und mit welchem Zweck diese aufgezeichnet worden sind. Ich wollte alles finden. Auch die Gesichter der zackigen Töter, Denunzianten, Spitzel, Gestapobeamten, die Herren des Gerichts und die Herren Ankläger, die Reichsanwälte. Fast alle waren unsichtbar, gesichtslos. Die Alliierten halfen beim Untertauchen und beschlagnahmten rigoros die Täterkarteien. Seit einigen Jahren erst sind sie zugänglich. Ich wollte mir ein Bild von ihnen machen, die Gesichter derjenigen finden, die die Tapferen der Weißen Rose aufs Schafott gebracht hatten. Was ich fand, zeigt, die Vollstrecker der Nazidiktatur haben ein gewöhnliches, biederes Gesicht. Die Flugblätter, die Anklageschriften und Urteile "Im Namen des Volkes" sind der bleibende Beweis: so viel Edelmut und so viel Niedrigkeit haben selten miteinander gekämpft wie bei der Weißen Rose. Über Lilo Fürst-Ramdohr und Traute Lafrenz-Page Von Katrin Seybold Auszüge aus: "Macht und Gesellschaft"/Männer und Frauen in der NS-Zeit. Vortrag vom 19.6.2004 im Münchner Stadtmuseum _______________________________________________________________________ ... Lilo Ramdohr ist eine derjenigen, die nicht angeklagt worden ist, weil ihr es gelang den Nazis eine "Frauenrolle" aufzutischen. Sie konnte nur entwischen, weil ihre Freunde das Spiel mitspielten. 1942 ermöglichte sie Alex Schmorell und Hans Scholl den Kontakt zu Falk Harnack, dem Bruder von Arvid Harnack, einem der Initiatoren der großen Berliner Widerstandsgruppe, der die Gestapo den Fahndungsbegriff "Rote Kapelle" gab. Falk Harnack hatte schon die Verbindung zum 20. Juli und Bonhoeffer hergestellt, durch die Verhaftungen von Hans und Sophie Scholl kam es nicht mehr zu dem geplanten Treffen. Eine Tat von Lilo Ramdohr, die als "Vorbereitung zum Hochverrat" galt und die ihr die Todesstrafe hätte einbringen können. Darüber hinaus versteckte Alexander Schmorell bei ihr Flugblätter, den Vervielfältigungsapparat und fertigte die Schablonen für die Wandparole "Nieder mit Hitler". an. Sie fälschte mit ihrer Nachbarin, einer Buchbinderin, den Paß von Alexander Schmorell, der damit die in Schloß Elmau herbeigerufene Polizei täuschen konnte. "Alex kam die Treppe hoch, grau - war völlig unrasiert und er sagte dann 'Jetzt haben sie Hans und Sophie weg gebracht' und er wollte fliehen und ob ich bereit wäre, ihm den Paß zu fälschen...Am nächsten Tag sind wir zum Starnberger Bahnhof, weil er wollte den Graf suchen und am Starnberger Bahnhof war der ganze Bahnhof voll Gestapo, und da sagt Alex 'Das schaffen wir nicht, wenn wir hier noch zwei Schritte machen, sind wir beide verhaftet! ' Jetzt hatte er Angst um mich. Dann sind wir wieder, mindestens eine halbe Stunde nach Nymphenburg gelaufen und um 2 Uhr in der Nacht, da hat er einfach keine Geduld mehr gehabt und dann sind wir runtergegangen in die Ferdinand-Maria- Straße und da sagt er zu mir, 'Ach Lilo,' sagt er, 'Ist ja egal, irgend etwas mußte sich in meinem Leben mal entscheiden' hat er gesagt'und 'Ich habe keine Angst vor dem Sterben, es kann nur besser werden.' Alexander Schmorell verriet ihre langjährige Freundschaft nicht, Falk Harnack tarnte sie als Verlobte und als sie ihm nach der Festnahme der Geschwister Scholl eine Warnung zukommen ließ, hatte er die Geistesgegenwart ihr einen - wie sie meint - fingierten Heiratsantrag zu machen. Mutig führte sie die Gestapo bei ihren Verhören an der Nase herum, so daß man sie aus dem Wittelsbacher Palais freilassen mußte. Die Polizei und der Volksgerichtshof gingen ihrem eigenen Rollenmodell zunächst auf den Leim, bis sie Verdacht schöpften. Falk Harnack floh zu den griechischen Partisanen, Lilo Ramdohr aus München, tauchte unter und heiratete, um mit anderem Namen um den Nachforschungen der Gestapo zu entwischen. In ihrem Buch hat sie von ihrem hingemordeten Freund Alexander Schmorell ein liebevolles Bild gezeichnet. Sie war seine aufmüpfige Freundin, durch ihre Tarnungen ein ordnungswidriges Element. Ihre Zeugenschaft scheint mir bis heute unterschätzt. Ist ihr Tun weniger wert, weil es ihr gelang, sich herauszureden, sich in den Schutz der Mißachtung der Frauen zu begeben und die harmlose, unwissende Braut zu spielen? Ich sehe sie katapultiert in die Ursituation einer selbstständigen Frau: auf Anerkennung pfeifend sich mißliebig machend weil sie eine Wissende ist. Alles Gründe dafür, daß man sie in ihrer peripheren Rolle, übernommen aus den Gestapoakten, beläßt. Traute Lafrenz In einer Untersuchung von Ann Jones über Mörderinnen in den USA weist diese nach, daß deren Bestrafung niedrig bleibt, je unselbständiger die Frauen angesehen wurden und daß diese überproportional im Vergleich zu derjenigen der Männer steigt, wenn sie als emanzipierte Frauen eingeschätzt wurden. Diesem Paradox war Traute Lafrenz gleich zwei Mal ausgesetzt: vom Volksgerichtshof wurde Anklage gegen sie erhoben, beim Prozeß gegen Schmorell, Graf und Huber verurteilte Freisler sie zuerst zu einem Jahr. Doch nachdem ihr Hamburger Klassenkamerad Heinz Kucharski der Gestapo 60 Seiten über sie diktiert hatte, - sie hatte den Hamburgern Flugblätter gebracht -, drohte ihr die Todesstrafe. In einer Zeit, in der Menschlichkeit ein Verbrechen war, baut sie sich Luftschlösser und eigene Traumgebilde durch die Berührung mit Bertolt Brecht, Novalis und Tolstois "Krieg und Frieden". In einer solchen Welt, der Welt der Nazi-Diktatur mündig werden, heißt in deren Sinn mißraten. Traute Lafrenz entwickelt sich zur verlorenen Tochter - nach ihrem ersten Prozeß wird sie, wie alle anderen vom Studium an allen Deutschen Hochschulen ausgeschlossen. Durch Alexander Schmorell hatte die Medizinstudentin Hans Scholl kennengelernt und wurde seine Freundin. Beide haben an der Realisierung ihrer Traumgebilde gearbeitet: Brüderlichkeit oder besser Geschwisterlichkeit und Frieden. Aufgewachsen im liberalen und musischen Milieu der Hamburger Lichtwarkschule in der Klasse der Lehrerin Erna Stahl, machte sie in den Leseabenden Hans Scholl und Alexander Schmorell mit Texten aus ihren Schulstunden und Leseabenden mit Erna Stahl bekannt, die die beiden dann in ihren ersten vier Flugblättern zitieren. Diese Texte waren zum Teil die Grundlage für den ethisch begründeten Appell an das Gewissen, der von den Nazis als politisches Schwerverbrechen gewertet wurde. Kaltblütig gelingt es ihr, der Gestapo eine dämliche Geschichte aufzutischen und niemanden zu verraten. In den Veröffentlichungen der letzten Jahre steht mehr darüber, welche Teile der Flugblätter von Hans Scholl und welche Passagen von Alexander Schmorell verfaßt worden sind (wie aus den Fußnoten ersichtlich, gestützt wird sich ausschließlich auf die Gestapoprotokolle). Aber vorausgesetzt, man analysiert die Flugblätter, kann man dann Traute Lafrenz als brave Zuarbeiterin eines Männerkollektivs sehen? Sie ist eine Initiatorin der Münchner Leseabende, gibt Flugblätter an Kommilitonen weiter, bringt sie nach Wien und Hamburg. Als Vater Scholl von seiner Angestellten Inge Wilke denunziert worden war, hilft sie in dessen Büro, nach der Verhaftung der Geschwister Scholl warnt sie Josef Furtmeier, Kurt Huber, ihre Wirtsleute und fährt nach Ulm zur Familie. Sie versucht, für Christoph Probst ein Gnadengesuch von dessen Frau zu erhalten, säubert mit Werner Scholl die Wohnung von Sophie und Hans von weiterem Belastungsmaterial und hat den Mut - wie keiner sonst - am Begräbnis der Scholls teilzunehmen. Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis will die Gestapo sie 1944 wieder festnehmen. Sie versucht in die Schweiz zu fliehen, ihre Flucht mißlingt. Die Gestapo verhaftet sie erneut. Jetzt droht ihr die Todesstrafe, doch es kommt nicht mehr zum Prozeß. Bis zur Befreiung Mitte April 1945 wird sie in mehreren Zuchthäusern und Gefängnissen gefangengehalten. Nach dem Krieg hält sie es in Deutschland nicht mehr aus und arbeitet als Ärztin in einem der Schwarzenslums von Chicago. Außer ihrem Bericht in Inge Scholls Buch ist es verwunderlich, dass ihr Beitrag zu den Flugblättern und zur Widerstandstätigkeit so wenig gewürdigt worden ist. "Ich weiß auch nicht mehr, wie das war, ob dann der Werner und ich nach Bad Tölz - oder wo Christls Frau im Krankenhaus war, die hatte gerade ein Kind bekommen und mußte das Gnadengesuch selber unterschreiben... Und da mußten wir ihr das sagen - das war furchtbar...Und dann sind wir wieder nachhause, nach München gefahren und da hatte sie unterschrieben. Das war furchtbar... Das war so ein blutiger Sonnenaufgang...Also das war schon ganz früh am nächsten Morgen, wir waren um Sieben bei ihr etwa und wir sind dann zurück und es war ein ganz roter Morgen, Sonnenaufgang und der Werner sagte dann, es ist sicher jetzt zu spät und es war auch dann zu spät..." In "Krieg und Frieden" habe Tolstoi mit Natascha eine der schönsten Frauengestalten und Liebesgeschichten geschaffen, erzählte sie mit einem Lächeln im Interview. Vielleicht ein Hinweis auf ihre eigene mit Hans Scholl. Tolstoi hat darin Männer und Frauen eindrucksvoll beschrieben. Am Ende von "Krieg und Frieden" steht: "Solange man nur die Geschichte einzelner Personen, mögen sie Caesar, Alexander, Luther oder Voltaire heißen, beschreibt, ist es schlechterdings unmöglich, die Bewegung der Menschheit zu beschreiben...Man muß die Geschichte aller ohne Ausnahme beschreiben, die an dem Ereignis teilgenommen haben. Dann werden die Geschichtsschreiber den Begriff der Macht erfassen." 9 Ist dies nicht eine wunderbare Aufforderung an uns alle, das Verschwinden starker Frauen aus der Erinnerung, aus den Gedenkstätten aufzuhalten? "Wenn einer spricht , wird es hell " Von Katrin Seybold Auszüge aus: "Zeitgeschichtlicher Film und Geschichtswissenschaft" Vortrag zum 75. Geburtstag von Hans Mommsen. 5.11.2005 _______________________________________________________________________ ... Als Raul Hilberg 1993 sein Buch "Täter, Opfer Zuschauer" in München vorstellte, wies er darauf hin, daß nicht allein die sich immer noch weitgehend auf Täterdokumente stützende Geschichtsschreibung nur Beachtung finden dürfe, sondern auch die Lebensgeschichten Einzelner, insbesondere die der Regimegegner und Verfolgten. Doch die Besten und Mutigsten seien tot, obwohl diese, streng genommen, doch die wichtigsten Zeugen wären. Meine Befragungen, 60 Jahre später, sind demnach Mosaiksteine, Facetten des Widerstands der Weißen Rose aus heutiger Sicht. Gleichzeitig ergibt sich daraus meine Haltung: Ich sehe mich nicht als Dokumentaristin oder Chronistin, höchstens als "Festhalterin", ich halte etwas fest, weil es sonst verschwindet. Und daraus ergibt sich meine Form: „Wenn einer spricht, wird es hell“, dieses Wort Sigmund Freuds gilt immer noch. Der Film wird aus den bruchstückhaften Erinnerungen der Beteiligten bestehen. Ich habe nicht gefilmt am authentischen Ort, der sowohl Emotionen wie auch Starrheit hervorrufen kann, ich hatte keinen systematisierten Fragenkatalog sondern meine Fragen im Kopf. Bei einer solch schwierigen Situation: Filmkamera, Scheinwerfer, und meinem Druck an eben dem Tag das gesagt zu bekommen, was wichtig ist. Auch wenn ich mich immer auf die Menschen eingestellt habe, eingegangen bin, gelang es mir nicht immer, für mich ergiebige Aussagen zu bekommen - wie verständliche Sätze, nur um ein Beispiel zu nennen. Bei einer wichtigen Zeugin mußte ich die Dreharbeiten wiederholen. Im Allgemeinen ist das nicht möglich - aus Kostengründen. Es waren keineswegs lockere Gespräche unter Gleichgesinnten, keine Erzählungen mit Enkeln, sondern ich stellte Fragen in einer Ausnahmesituation, die inszeniert war. Die meisten Zeugen mußten viel Überwindung aufbringen, um sich hier zeigen zu können. Dieses Filmen erinnerte sie an Erfahrungen, die wieder aufleben zu lassen keineswegs immer befreiend wirkten. Durchweg waren es die Frauen, die ihren Anteil an den Aktionen für unbedeutend hielten, sie haben sozusagen sich selbst an den Rand der Geschichte gedrängt, auch wenn ihre Taten sehr couragiert waren, erschien ihnen ihre eigene Lebensgeschichte nicht erzählenswert angesichts derer, die ihr Leben verloren hatten. Bei den Männern war das manchmal umgekehrt, im Allgemeinen waren sie selbstbewußter. Einige der Zeugen stehen heute im Rampenlicht, den anderen ist öffentliche Anerkennung bis heute versagt geblieben. Die Qualität der Aussagen zwischen den bekannteren Zeugen und derer, die bisher nicht in der Öffentlichkeit standen, differiert häufig sehr stark. Eine der Ursachen dafür ist, daß manche Zeugen ihre Lebensgeschichte schon sehr oft erzählt haben. Für den Erinnerungsprozeß ist es notwendig, daß die Fragerin eine Fremde bleibt, eine Art Komplizin des Gedächtnisses nur insoweit, daß Erlebtes wieder kommt. Ich denke, Personen werden im Film erst Zeugen, wenn der sie Befragende, das Gegenüber Ihnen selbst nichts zu sagen hat, sondern nur wissen will. Dann, allerdings erscheint, was kein Kriminalkommissar der Gestapo je imstande ist, aufzuzeichnen und aus den Akten herauszulesen ist: Die Sprache, die wankelmütige, hilflose, die zögerliche, verunglückende, geschminkte, enttarnte, und das Herantasten an das richtige Wort, an die Beschreibung des alles einschränkenden Standpunkts, Blickwinkels, also die Relativierung. Voraussetzung für Offenheit der Zeugen sind Anteilnahme und Hinwendung zu den mir - nennen wir es so - zeitweise Ausgelieferten. Für einen kurzen Moment löse ich Trauer, Abwehr, Schmerz, selten Freude aus. Oft ernte ich dafür Wut, Ärger, Zorn. Und, es mag paradox klingen, die Zeugen, mit denen ich mich am meisten "gestritten" habe, sind im Film die Eindrücklicheren. Die Facetten der Wahrheit einer Aussage, oder besser, Hannah Arendts "Augenblick der Wahrheit" kann nur durch Mitteilung entstehen und wenn diese kein Gehör findet, gibt es kein Zeugnis. Ich verstehe diese Mitteilung als Aufruf und Appell an unsere Verantwortung, vorausgesetzt sie gelangt zu einer Rezeption, zur Aufnahme und kann so - in sogenannter sekundärer Zeugenschaft - mit den Beteiligten geteilt werden. ... "Wo flammt ein Wort, das für uns beide zeugte?" fragt Paul Celan in einem Gedicht. Als Filmemacherin nehme ich für mich überhaupt nicht die Deutungshoheit über die Geschichte in Anspruch. Insofern ist es mir 60 Jahre nach der Katastrophe nicht darum zu tun, Identifikation und Heldenverehrung mit den Wagemutigen einerseits und Ablehnung und Entsetzen über Denunzianten andererseits auszulösen. Ich versuche die Rückblicke der Zeugen von heute zu verknüpfen durch die Suche nach Darstellungsformen, durch die Montage von Zeugenerzählungen, Erinnerungssplitter Einzelner, ich nehme kein Propagandamaterial, kennzeichne Fotos, Dokumente der Täter, trenne die Fotos der Verfolgten von denen der Verfolger. Insofern bin ich parteilich. Das ist meine Form der Umsetzung, mein Mittel, sich der Geschichte zu nähern. |