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  • Deutschland/Lettland, 2005, 90 Min., schwarz-weiß, 35mm,

    BESETZUNG

    Egons Dombrovskis
    Nikolaj Korobov
    Vigo Roga
    Aija Dzerve
    Gundars Silakaktins
    Andris Keiss
    Rihards Gailiss
    Matiss Zelcs
    Alexej Mesetzkis
    Kommissar
    Alina
    Bar-Mann
    Alinas Ehemann
    Alinas Sohn

    STAB

    Regie
    Drehbuch
    Bildgestaltung
    Kameraführung
    Kamera Assistenz
    Regieassistenz
    Steady Cam
    Beleuchter
    Ton
    Tonmischung
    Kostüme
    Maske
    Schnitt
    Produktionsassistentin
    Produktionsfahrer
    Produktionsleiter
    Ausführende Produzentin
    Produzent
    Produktion

    Drehort
    Fred Kelemen
    Fred Kelemen
    Fred Kelemen
    Baiba Lagzdina
    Aleksandrs Cerkasins
    Inese Klava
    Kaspars Brakis, Valdis Celmins
    Aleksandrs Cerkasins, Gederts Silins, Dainis Silins
    Russlans Gailitis, Ilvars Vegis
    Jörg Höhne
    Lasma Lagzdina, Ilvars Elceris
    Ineta Medne, Dita Hvoinska
    Fred Kelemen, Franka Pohl, Klaus Charbonnier
    Silvija Cibulska, Anitra Velde
    Igors Gavrilovs, Vladimirs Timofejevs, Jurijs Dics, Armands Prusis
    Kristians Luhaers
    Laima Freimane
    Fred Kelemen
    KINO KOMBAT Filmmanufactur (Deutschland),
    Screen Vision (Lettland)
    Riga

    BIOGRAFIE

    Fred Kelemen wurde als Sohn einer ungarischen Mutter und eines deutschen Vaters in Berlin (West) geboren. Nach Studien der Malerei, Musik, Philosophie, Religions- und Theaterwissenschaft und der Arbeit als Regieassistent an verschiedenen Theatern, begann er im Jahr 1989 sein Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb). Seit dieser Zeit realisierte er eine Anzahl von Filmen und Videos und inszenierte an verschiedenen Theatern in Deutschland. Auch arbeitete er als Kameramann von Spiel- und Dokumentarfilmen mit verschiedenen Regisseuren wie Béla Tarr, Hectór Faver, Yesim Ustaoglu, Gariné Torossian, etc. Er ist als Gastdozent am Zentrum für Cinematographische Studien von Katalanien (C.E.C.C.) in Barcelona/Spanien, an der Hochschule für visuelle Künste (ESBAG) in Genf/Schweiz und an der Lettischen Kultur Akademie (LKA) in Riga/Lettland tätig. Fred Kelemen lebt in Berlin.


    FILME

    1989




    1990







    1991







    1991/93





    1994












    1997/98












    1999









    2005

    FRÜHLINGSOPFER (Kurzfilm)
    Hauptpreis Jugend und Video - Minister für Jugend und Familie 1990
    Spezialpreis der Jury - Film und Video Festival Budapest / Ungarn 1990
    Förderpreis des Landes Hessen

    MELABU (Kurzfilm)

    UNANSWERED QUESTIONS (Kurzfilm)

    Ö (Kurzfilm)

    A BUNDA - DER PELZ (Kurzfilm)

    MALIGNE (Kurzfilm)
    Mention Special - Festival du Court-Métrage, Clermont-Ferrand / Frankreich 1991

    NO NATION (Kurzfilm)
    Hauptpreis Jugend und Video 1991

    EL QUIEN (Kurzfilm)

    KARAWANE DER SEHNSUCHT (Kurzfilm)

    KALYI (73 min.) (Studentenfilm) (Deutschland, Ungarn) |
    Regie und Kamera: Fred Kelemen
    - Deutscher Kamerapreis 1993 - Nominierung

    KALYI - ZEIT DER FINSTERNIS (75 min.)
    Nominiert für den Deutschen Kamerapreis

    BLURT IN BERLIN (Kurzfilm)

    SOLEDADES (Kurzfilm)

    VERHÄNGNIS / FATE (80 min.)
    Prix FIPRESCI (Preis der Internationalen Filmkritik für den besten Film) Special Mention – Toronto International Film Festival/ Kanada 1994
    Publikumspreis – Filmfestival “Max-Ophüls-Preis” Saarbrücken/Deutschland 1995
    Deutscher Filmpreis (Filmband in Silber) – Deutschland 1995

    Precolumbian Gold Circle Award für den besten Regisseur – Bogota International Film Festival/Kolumbien 1995
    Preis für den besten Regisseur – Molodist International Film Festival Kiev/Ukraine 1995
    “Arsenáls Magic Crystal” – “Arsenáls Film Forum” Riga International Film Festival/Lettland 1996
    Nominiert für den Deutschen Filmmusikpreis 1997

    UTAZÁS AZ ÁLFÖLDÖN / JOURNEY TO THE PLAIN (45 min.) (Ungarn)|
    Kamera: Fed Kelemen, Regie: Béla Tarr

    FROST (200 min.)
    Innovation Award (Bester innovativer Film) – Festival Internacional de Cine de Figueira da Foz/Portugal 1997
    Prix FIPRESCI (Preis der Internationalen Filmkritik für den besten Film) – Rotterdam International Film Festival/ Niederlande 1998

    Cariddi D’Argento Alla Migliore Regia (Preis für den besten Regisseur) - Taormina International Film Festival/ Italien 1998
    Nominiert für den “Prix Georges Sadoul”/Frankreich 1998

    ABENDLAND / NIGHTFALL (140 min.) (Deutschland, Portugal)
    Regie und Kamer: Fred Kelemen
    Prix FIPRESCI (Preis der Internationalen Filmkritik für den besten Film) – Thessaloniki International Film Festival/Griechenland 1999
    Premio „Principado de Asturias“ al mejor largometraje (Preis für den bestenFilm ) – Gijón International Film

    Festival/Spanien 1999
    “Prix Aurora” – Tromsö International Film Festival/Norwegen 1999
    Nominiert für den „Prix L’ Age D’ Or“ – Brüssel/Belgien 2000

    TATAO SAMOA (90 min.) (Deutschland, Schweiz) |
    Kamera: Fred Kelemen, Regie: Gisa Schleelein

    STONE, TIME, TOUCH (70 min.) (Kanada, Armenien) |
    Kamera: Fred Kelemen, Regie: Gariné Torossian

    KRIŠANA/FALLEN (90 min.) (Lettland, Deutschland) |
    Regie und Bildgestaltung: Fred Kelemen
    Prix FIPRESCI (Preis der Internationalen Filmkritik für den besten Film) –
    Festival of European Cinema, Lecce/Italien 2005
    Spezialpreis der Jury für die beste Regie - Festival of European Cinema,
    Lecce/Italien 2005
    Preis für die beste Kinematographie - Festival of European Cinema,
    Lecce/Italien 2005
    Lettischer Nationaler Filmpreis, Lettland 2005
    Nominiert für den Deutschen Filmkunst Preis, Deutschland 2005
    Nominiert für den Preis der Deutschen Filmkritik 2005
    „Sergo-Parajanov-Prize“ für den besten Film – Tbilisi International Film
    Festival/Georgien 2006
    „Silver Prometheus“ für den besten Regisseur – Tbilisi International Film
    Festival/Georgien 2006

    DAS SICHTBARE UND DAS UNSICHTBARE (140 min.) (Deutschland) |
    Kamera: Fred Kelemen, Regie: Rudolf Thome

    A LONDONI FÉRFI / THE MAN FROM LONDON (132 min.) (Ungarn, Frankreich, Schweiz, Deutschland) |
    Kamera: Fred Kelemen, Regie: Béla Tarr
    Nominiert für den Deutschen Kamera Preis 2008

    A TURINÓI LÓ / DAS TURINER PFERD (146 min.) (Ungarn, USA, Frankreich, Schweiz, Deutschland) |
    Kamera: Fred Kelemen, Regie: Béla Tarr
    „Golden Camera 300“ – Bester Kameramann – International Cinematographers’ Film Festival Manaki Brothers/Mazedonien 2011
    Carlo Di Palma Best European Cinematographer Award 2011 - Nominierung
    Ungarischer Filmpreis “Magyar Filmkitiikusok Dija” – Bester Kameramann – 2012 / Ungarn

    SUKARIOT / SWEETS (ca. 130 min.) (Israel) |
    Kamera: Fred Kelemen, Regie: Joseph Pitchhadze

    GLUT (90 min.)
    Prix FIPRESCI (Preis der Internationalen Filmkritik für den besten Film) - Festival of European Cinema, Lecce/Italien 2005
    Spezialpreis der Jury für die beste Regie - Festival of European Cinema, Lecce/Italien 2005
    Preis für die beste Kinematographie - Festival of European Cinema, Lecce/Italien 2005
    nominiert für den lettischen Filmpreis in 6 Kategorien (beste Regie, beste Kamera, bester Hauptdarsteller, bester Nebendarst. u. Setdesign)


    INTERVIEW

    Gespräch mit Fred Kelemen zu GLUT von Erika Richter



    Wie kam es dazu, daß Du, ein Berliner Filmregisseur und -autor, Deinen vierten langen Spielfilm in Riga drehtest?
    Ich kenne die Stadt seit nunmehr neun Jahren. Ich war mehrmals Gast des Filmfestivals und habe 2002 und 2004 einen zwei- bzw. dreimonatigen Workshop mit Studenten der Lettischen Kulturakademie geleitet. Seit einigen Jahren hatte ich vor, einen Film “Die eiserne Stadt“ zu drehen, der zum Teil in Riga spielt, und zu dem es ein fertiges Drehbuch gibt. Leider scheiterte das Projekt vor anderthalb Jahren an dem deutschen Produzenten.
    In Koproduktion mit der Koproduzentin von “Die eiserne Stadt“ habe ich im vergangenen Sommer “Glut“ gedreht. Ich verband meinen Aufenthalt dort mit der Arbeit zu diesem spontan entstandenen Film. Die Idee dazu war natürlich auch eine Folge meiner intensiven Auseinandersetzung mit der Stadt und ihren verschiedenen Lebenswelten. Sie folgte der Stimmung, in der ich mich dort befand. Anschließend wurde der Film in Berlin geschnitten.
    Mir war bei den ersten Gedanken an die Realisierung von “Glut“ bewußt, daß es keinen Sinn hätte, die Idee nach Deutschland zu tragen, ein Drehbuch zu schreiben, durch die unter Umständen jahrelange Mühle der Filmförderungen und Fernsehredaktionen zu gehen. Der Film wäre, davon abgekühlt, nie gedreht worden. Und ich denke, ein Film sollte gedreht werden, solange er heiß ist. Das Fördersystem in Deutschland ist aber darauf nicht ausgelegt. Es findet eine große Abnutzung der Kräfte statt, bevor es zum wirklichen kreativen Akt kommt. Am Ende drehen die Regisseure einen Film, weil dann endlich die Finanzierung steht. Doch Seele und Kopf sind inzwischen oft schon woanders, und der Film wird nur gedreht, weil es möglich geworden ist; nötig, heiß ist er dann nicht mehr. Jede Liebessehnsucht, auf deren Erfüllung man zu lange warten muß, zermürbt und wird fahl. Und hier, im Falle der Filmkunst, handelt es sich selbstverständlich um ein Liebesverhältnis. Eine Veränderung des Fördersystems, das Regisseuren, Produzenten, allen am kreativen Prozeß Beteiligten die Möglichkeit böte, schnell, direkt, kurz nach Beendung der Erstellung eines Drehbuchs oder einer Drehvorlage, einen Film im Zustand kreativer Hitze zu realisieren, würde einen Energiestrom entstehen lassen, der wundervolle Filme an das doch sehr verödete Ufer treiben würde. Ich habe diesen Film im Zustand kreativer Leidenschaft gedreht, und diese Leidenschaft teilten auch die Schauspieler und das Team. Unabhängig davon, wie er beurteilt wird, habe ich meinen Frieden mit ihm, denn er ist in Liebe entstanden, ohne Gegenstand irgendwelcher Strategien, Verhandlungen etc. gewesen zu sein. Es lag ein sehr direkter, kurzer Weg zwischen der Idee und der Realisierung, ähnlich dem künstlerischen Schaffen eines Malers oder Dichters oder der Arbeit am Theater.

    Hat die Tatsache, daß Du in einem fremden Land drehtest, dessen Lebensatmosphäre und politischer und historischer Hintergrund anders ist und dessen Sprache Du nicht sprichst, diesen Film wesentlich beeinflußt, etwa zur schnörkellosen Kargheit, Klarheit, Konzentration und poetischen Dichte der erzählten Geschichte beigetragen? Oder spielte dieses äußerliche »Fremd-Sein« für Dich bei der Arbeit am Film keine große Rolle? Wie entwickelte sich die Geschichte?
    Ich habe mich nicht fremd gefühlt. Ich fühle mich nicht fremd in Ländern außerhalb Deutschlands. Ich fühle mich fremd mit manchen Menschen. Dabei spielt es keine Rolle, woher sie stammen oder wo sie mir begegnen. Der Stil des Filmes hat mit dem Ort nichts zu tun. Er ist konsequent Teil meiner bisherigen Arbeit; eine Fortführung. Die Geschehnisse können sich überall ereignen. Doch der Ort und seine Menschen haben dem Klang des Filmes, und zwar dem Klang der Töne und der Bilder, natürlich ihre Färbung gegeben. Die Geschichte entwickelte sich aus den Charakteren heraus von allein. Die Personen des Filmes handeln, und als Handelnde entspinnen sie Geschichten. Geschichten bzw. Situationen sind natürliche Absonderungen unseres Handelns; ähnlich des Fadens einer Spinne. Ich bin dem möglichen und relevanten Verhalten der Charaktere gefolgt. Das ließ das Geschehen folgerichtig entstehen.

    Wie in Deinen früheren Filmen sind die Gänge der Hauptperson durch den Raum, in diesem Falle durch Riga bei Tag und bei Nacht, für die Geschichte des “Helden“ und für die Struktur des Films von zentraler Bedeutung. Was bedeuten Dir diese Gänge?
    Die Gänge bedeuten nichts. Wir gehen, wir sind unterwegs, wir müssen unsere Körper von A nach B schaffen, wir sind keine ruhenden Wesen, keine Pflanzen, keine Engel, wir sind unterwegs, die Unruhe treibt uns. Es gibt keine Wege, es gibt nur den, der geht. Das ist der Mensch. Beim Gehen spinnen wir die Wege. Wir hinterlassen Spuren. Spuren der Verzweiflung, der Gewalt, der Sehnsucht, der Liebe. Wir sind unterwegs. Wir sind Nomaden. Wir gehen. Es bedeutet nichts, als daß wir gehen.

    In Deinen früheren Filmen standen leidenschaftliche, schmerzhafte Beziehungen zwischen zwei (oder sogar drei) Menschen im Zentrum, die zu Exzessen und Eruptionen führten. In “GLUT“ erleben wir die Geschichte eines Mannes, dessen Sehnsüchte und Begierden sich in seinem Innern abspielen. Die Intensität dieses Films hat nichts Spektakuläres. Siehst Du diese geistige Konzentration als Ausdruck einer neuen Stufe der Entwicklung Deines filmischen Denkens an?
    Nein, es ist keine neue Stufe. Es gibt nichts Neues. Es ist immer schon alles da. Es kommt nur nicht alles immer gleich zum Vorschein. Bestimmte Umstände treffen mit bestimmten Präpositionen zusammen und lassen wie in einer chemischen oder alchimistischen Reaktion Wirklichkeiten hervortreten. Und zu dieser Zeit, in dieser Situation, an diesem Ort, mit diesen Menschen war das Erzählen dessen, was der Film zeigt, auf diese Weise möglich. Aber es ist keine neue Stufe. Im Holz ist das Feuer gewissermaßen schon immer enthalten. Unter bestimmten Umständen tritt es nach außen und wird sichtbar. In diesem Film wollte ich stiller sein, auf die ausgelebten Exzesse habe ich verzichtet. Sie toben stattdessen im Innern. Das Drama, das sich ja immer im Innern abspielt - in der Außenwelt manifestiert es sich nur - , habe ich in den Kopf, in die Imagination verlagert. Ich habe schon längere Zeit ein Unbehagen an der Vulgarität auserzählter Geschichten. Das wirkliche Drama findet in unserem Geist statt. Es ist wie alles eine Illusion, und wie jede Illusion eine Wirklichkeit.

    Warum hast Du für diesen Film - zum ersten Mal - Schwarz-Weiß gewählt?
    Ich habe schon immer Schwarz-Weiß-Filme gedreht, nur eben in Farbe. Diesmal habe ich auf die Farbe verzichtet.

    Glaubst Du, daß Du mit dieser universellen Geschichte über Einsamkeit, Versagen, Sehnsucht nach Liebe, Schuld und Hoffnung auf Vergebung der Schuld etwas beitragen kannst zur Bewältigung des Lebens der Menschen in diesen harten, seelenlosen Zeiten?
    Nein. Nichts. Es ist eine sehr individuelle Angelegenheit, was ein Mensch mit einem Film, den er gesehen hat, anfängt, was dieser Film mit ihm tut, welches Leben er in ihm hat. Und so ist das mit allem, was uns begegnet, uns widerfährt.

    Wie siehst Du mit diesem Film, aber auch generell mit Deiner gesamten Haltung zur Bedeutung der Filmkunst, Deine Situation innerhalb der mehr oder weniger auf Profiterwirtschaftung ausgerichteten Filmszene und innerhalb der Gesellschaft?
    Jeder Film kann der letzte sein. Es wird immer schwieriger, den Anspruch umzusetzen, Filme zu realisieren, die sich nicht den kapitalistischen Prinzipien der Geldvermehrung, die dieser wie jeder Kunst nicht inhärent sind, unterwerfen. Jeder Film muß leider gegen die herrschende Ideologie unter großer Kraftanstrengung durchgesetzt werden. Unser gesamtes Leben wird ja inzwischen verstärkt vom Virus der Kommerzialität und vom Infekt der Angst angegriffen. So ist es auch im Bereich des Films. Den Zuschauern werden immer weniger Möglichkeiten gelassen, andere Formen des Kinos wahrzunehmen, was eine von außen durchgeführte künstliche Verengung des Blicks bedeutet und eine Amputation der Filmkunst. Ein Gewaltakt.-

    Warum bist Du jetzt auch Produzent geworden?
    Das hat zu tun mit dem, was ich gerade sagte. Jeder Produzent, der einen Film, von dem er weiß, daß er gut ist, gegen sein besseres Wissen nicht realisiert, weil er kommerziellen, profitorientierten Interessen nicht entspricht, arbeitet mit am Tod der Filmkunst. Und wir, das heißt meine Partner und ich, beurteilen den Wert der Realisierung eines Filmes nicht nach Kriterien der Profitabilität, sondern nach seinen originär künstlerischen und kommunikativ menschlichen. Das ist auch eine Möglichkeit, mit dieser Kunst umzugehen. Es ist vielleicht eine Chance. Und etwas muß sich ja ändern.

    Du hast einmal gesagt, daß Du nicht an die Hoffnung glaubst und auch nicht denkst, daß Filme einen Menschen ändern könnten. Warum drehst Du weiter Filme und bringst anderen bei, Filme zu drehen? Welchen Zweck hat es?
    Wir sind sterbliche Wesen. Wir sollten nicht hoffen. Wir sollten unser Leben als Mensch in der erschöpfendsten, vollständigsten Weise realisieren und gestalten, was unsere flüchtige physische Existenz und unser transzendentes Wesen einschließt. Ich habe nicht gesagt, daß ich nicht an die Hoffnung glaube, ich habe gesagt, daß die Hoffnung, so wie ich sie verstehe, eine passive Haltung ist, die uns in einer wartenden Stellung hält. Wir sitzen und hoffen und warten, und während wir warten, findet das Leben statt und andere handeln und bestimmen unsere Realität. Die Hoffnung ist ein sehr beliebtes politisches Instrument, um die Leute ruhig zu halten und sie zu beherrschen. Sie ist zu einer Art Ideologie geworden. Doch die Hoffnung sollte auf etwas gestützt sein. Das könnte Vision genannt werden. Ich würde bevorzugen, HOFFNUNG mit VISION zu ersetzen. Eine Vision ist mit Energie und Leidenschaft aufgeladen, sie ist nicht passiv, sie fordert ihre Realisierung. In einer Zeit, in der das Ende der Utopien ausgerufen wird, ist es extrem wichtig, den Mut zum utopischen Denken zu haben, den Geist zu öffnen, um in der Lage zu sein, den sehr begrenzten Pragmatismus zu überwinden, der unser Denken und Fühlen auf die materielle Ebene unserer Existenz konzentriert, und unsere intellektuellen, emotionellen und schöpferischen Fähigkeiten und Möglichkeiten außeracht läßt. Ohne Hoffnung zu leben, an das Leben und dessen Möglichkeiten ohne Hoffung und Verzweiflung zu glauben, sich jenseits dieser Illusionen zu bewegen und den Raum der Realität zu betreten, wo wir mit einem unverdorbenen Blick sehen können, wie das Leben wirklich ist, das Undenkbare zu denken, ohne uns selbst zu begrenzen, authentisch zu handeln, keine Angst vor der Utopie zu haben, auch wenn es keine Versprechung auf Erfüllung gibt, unsere geistigen und emotionellen Grenzen zu erweitern, zu lieben ohne Erwartungen und Belohnung, das wäre ein Akt menschlicher Würde und Schönheit. - Auch wenn es ungeheuer schwierig ist.

    TEXTE ZUM FILM

    Die Nacht, die Sterne, der Mensch. - Die Filme des Fred Kelemen

    Was ist schon ein Mensch neben einem Stern? - Alles. (Abendland)

    Grobes Korn auf der Leinwand, angeschmutzte Farben, keine glatten, keine heilen Bilder, keine heile
    Welt. Diffuser Strassenlärm, ein heruntergekommenes Viertel, Slum. Eine offenbar betrunkene Frau,
    die auf der Strasse singt und tanzt, eine andere mit Kopftuch, eine dritte mit merkwürdigem Hut;
    alte oder frühzeitig gealterte Männer, mit tief gefurchten Gesichtern. Alle bewegen sich unendlich
    langsam. Wie im Traum. Ein jüngerer Mann, vielleicht um die dreissig, sitzt auf den Stufen des
    Durchgangs eines Bahnhofs. Auf einem Akkordeon, das er auf den Knien hält, spielt er den langsamen
    melancholischen Tango, den man von Anfang an gehört hat. Es sind immer wieder dieselben
    zehn oder zwölf Takte, aber sie klingen immer wieder neu, weil Rhythmus und Lautstärke, dann
    auch die Tonart wechseln. Das geht viele Minuten lang. So lange jedenfalls, bis man nicht mehr
    möchte, dass das Akkordeon zu spielen aufhört.
    Mit den ersten Einstellungen seines ersten langen Spielfilms VERHÄNGNIS hat Fred Kelemen allen
    seinen bisherigen Filmen das Vorzeichen gesetzt und die Strategie vorgegeben: der Zauber ist eröffnet.
    Immer wieder wird die Magie sich über die Dauer, ja Insistenz, über Dunkelheit, das Diffuse, die
    Unreinheit der Bilder vermitteln, immer wieder über die Geräusche, die Töne oft von irgend woher,
    Menschenlärm, Strassenlärm, Fabriklärm, Hundegebell; oder der Wind, oder ein Hubschrauber...
    Dieser Zauber wird hungrig machen nach Zeit, die in den Bildern und Tönen wie eingeschlossen ist
    und sich mit dem Film öffnet zu einer weiten, unendlichen Landschaft der Vorstellungen und
    Gefühle. Spröde hat man sie genannt, sperrig, schwarz, tiefschwarz, diese Filme. Nichts davon trifft
    zu. Was ungewöhnlich ist, ist nicht fremd, sondern anders als in anderen Filmen. Was verschüttet
    ist, zugekleistert, verklebt, verdrängt: in diesen Filmen wird es offen gelegt, befreit, entsperrt.
    Der Akkordeonspieler sitzt nicht mehr auf der kurzen Treppe im U-Bahnhof. Ein Chilene hat ihm
    Geld angeboten und ihn mitgenommen in seine Wohnung. Er will lateinamerikanische Tangos
    hören, immer wieder und nie genug. Nach dem letzten Tango legt er einen grossen Geldschein auf
    den Tisch. Den soll der Akkordeonspieler bekommen, wenn er den Wodka trinkt, den er aus einer
    Flasche in eine Blumenvase schütten musste. Die Gewalt, die aus Einsamkeit und Verlassenheit, aus
    Heimatlosigkeit und Fremde erwächst, wendet sich gegen den anderen Heimat- und Hoffnungslosen.
    Er wird sie nicht für sich behalten. Als er bei seiner Freundin Luba einen Mann antrifft, schlägt
    er die Frau zu Boden, erschiesst er den Fremden und flieht in die Nacht. Die Frau aber steht erstarrt
    vor der Leiche, die man durch ihre zitternden gespreizten Beine sieht. Dann sieht man und hört man
    die Angst, den Schrecken, die Panik mit dem Urin, der aus ihr auf die Dielen vor dem Toten rinnt.

    Auch in FROST prügelt ein Mann eine Frau, und auch in ABENDLAND ist sie virulent und wirklich,
    die Gewalt, die durchweg sexuelle Gewalt ist.
    Aber sie ist keine Lust und bringt nicht wirklich Befriedigung. Nichts dergleichen hat sie im Sinn.
    Denn sie ist nur Sprache der Sprachlosigkeit, etwa des stets betrunkenen Mannes, der zuerst noch und
    immer wieder sagt: „Aber ich hab dich doch lieb“, und dann die Frau, die ihn zurückweist,
    zusammenschlägt (FROST). Oder des Freiers, der die Frau, die sich ihm verkauft hat und in sein Auto
    gestiegen ist, übel zurichtet (ABENDLAND). Oder der Männerhorde, die in einer Kiezbar sich in eine
    Massenvergewaltigung verliert (VERHÄNGNIS).
    Sie ist auch die Sprache der sprechunfähigen Päderasten, die ein kleines Mädchen töten (ABENDLAND).
    Die Gewalt steht in keinem Wörterbuch, obwohl sie eine Sprache des Lebens ist. Deshalb
    gehört sie zum Vokabular dieser Filme.

    Anton, der Arbeitslose, hat auf dem Arbeitsamt eine Angestellte niedergeschlagen, die ihn dazu
    aufgefordert hatte, sich zu setzen. Er kann anders nicht mehr sagen, wie schlecht es ihm geht. Seine
    Freundin, Leni, die Büglerin, in deren dürftiger Wohnung man ihn wiedersieht bei dem missglückenden
    Versuch, zu ihr ins Bett und auf die Frau zu steigen, fordert ihn auf, ihr zu sagen, dass
    er sie liebe, denn das tue er doch. Er sitzt, das Bier in der Hand, am Tisch und sagt kein einziges
    Wort. Auch als die Frau ihn schlägt. Dann gehen beide in die Nacht. Sie werden einander nicht wiederbegegnen
    vor dem Ende der Nacht, selbst wenn sie es könnten.

    Immerfort bewegen sie sich fort, in ABENDLAND, in VERHÄNGNIS, in FROST, der langen Flucht der
    Frau mit ihrem Sohn durch eine eisige Landschaft und vereiste Gefühle. Sie sind, auch wenn sie eine
    Wohnung haben wie Leni, nirgendwo daheim. Es gibt keine Heimstatt, es gibt nur Stationen. Die
    Orte sind Bahnhöfe oder Massenunterkünfte, Bars und Kneipen, Kellergelasse oder bestenfalls winzige
    Zimmer, Mülldeponien, Fabrikhöfe, endlose Felder oder Strassen in verlassenen, menschenleeren
    Vierteln, in denen schon lange niemand mehr wohnt, Gassen, durch die Hunde wie Wölfe streichen.
    Jeder und jede ist einsam, sie sind jeder für sich allein, und wenn sie zu zweit sind, sind sie es
    nur irgendwie, stationär, vorübergehend. Bis zur nächsten Station. Wenn diese Filme zuende gehen,
    könnte hinter ihnen ein neuer beginnen. Denn auch jedes Ende ist nur eine Haltestelle, ist Station.

    Etwa wenn der Akkordeonspieler der Frau, deren Liebhaber oder Freier er niedergeschossen hat,
    wiederbegegnet. Da kommt sie aus dem Waldstück, wo man sie nach der Vergewaltigung in der Bar
    offenbar hingekarrt hat; sie treffen sich im wüsten Gelände einer aufgelassenen Fabrik und gehen
    in den Hintergrund des Bilds. Oder: Anton und die Büglerin Leni finden sich am Morgen nach der
    langen Nacht der getrennten Reisen durch Kneipen und Kaschemmen, Absteigen und Abraumhalden
    wieder in dem Zimmer mit Tisch und Bett, das sie getrennt verliessen. Der Mann sitzt am Tisch,
    die Frau steht am Fenster. Dann sieht sie, am Ende, zu ihm hin. Könnte das ein neuer Anfang sein?
    Und was wäre anders? Nichts hat sich wirklich geändert, aber alles könnte auch vollkommen anders
    sein. Mit dem Kind, das in der letzten Einstellung von FROST vor der offenen Landschaft steht,allein.
    Alles ist offen, alles kann neu beginnen, für das Kind, das diesen ganzen Film in Flammen hat aufgehen lassen.

    Es ist oft dunkel auf der Leinwand, aber es ist ein Dunkel, das leuchtet. Es ist viel Nacht in den Filmen:
    ihr Licht kommt aus anderen Quellen. Sie sind auch langsam, diese Filme, aber nicht, weil
    nichts geschieht, sondern weil sie ausführlich sind. VERHÄNGNIS, 80 Minuten lang, besteht aus
    nicht viel mehr als zwei Dutzend Einstellungen. Sie dauern drei, fünf, acht Minuten, und die in der
    Bar, in die sich Luba geflüchtet hat, wo sie sich betrinkt und vergewaltigt wird, diese Einstellungssequenz
    währt, ungeschnitten, etwa vierzehn Minuten. Keine dieser insistierenden Einstellungen
    sperrt den Zuschauer aus: jede nimmt ihn mit. Die Filme sind lakonisch, es wird wenig in ihnen
    gesprochen, aber man hört, was zu sagen wäre; man spricht es selbst. Und wenn in ABENDLAND längere
    Dialoge vorkommen als in VERHÄNGNIS und FROST, dann wirkt das fast redselig, und ist doch
    nur explizit: es wird nicht eine Geschichte wie in FROST, es werden nicht zwei wie in VERHÄNGNIS,
    es werden mehrere Geschichten erzählt, die Geschichte schlechthin.

    Fred Kelemen, Autor, Regisseur, Kameramann, Monteur seiner drei Filme, scheint sie aus der Armut
    produziert zu haben, die das Insignium seiner Figuren ist. Und doch gibt es kaum reichere Filme in
    Deutschland als diese armen. Ihr Licht ist die Nacht, ihr Weg ist die Beharrlichkeit der Kamera, ihr
    Leben sind lange Augenblicke, wie es schönere lange nicht gegeben hat. Das Brot ihrer Menschen
    sind Bier und Zigaretten, und ihr Dach ist der Himmel, zu dem die Prostiuierte Nina ihrer Zufallsfreundin
    Leni hinauf zu schauen rät, wenn sie sich ganz am Ende fühle, und sich zu fragen, was denn
    ein Mensch sei neben einem Stern. Lenis Antwort ist die Antwort Kelemens auf alle Fragen.

    Was schon sind alle Sterne, die am Himmel des Kinos glitzern neben diesen Menschen, die nicht
    mehr dazu imstande sind, sich zu sagen, dass sie sich lieben? Oder die es so oft sagen wie der stets
    betrunkene Vater. Oder wie die Tangos des Akkordeonspielers auf der Treppe des U-Bahn-Schachts:
    auch Musik ist Sprache wie die Sprachlosigkeit, wie die Gewalt, wie die Bilder der Nacht. Dieser Filmemacher
    meint es verdammt ernst mit seinen Filmen. Deshalb ist er ein Purist, deshalb sind seine
    Filme von einer Reinheit, wie es sie nicht mehr gibt im Alltag unseres Kinos. Man kann, wenn man
    will, an Béla Tarr denken, oder an Filme von Andrej Tarkowskij. Oder an Alexander Sokurow. Dessen
    frühe Filme atmen die gleiche Luft von Armut und Dürftigkeit, von Elend und Sprachunfähigkeit,
    den Odem der Wirklichkeit. Nur dass sich bei Sokurow die Kamera vom Himmel stürzt und landet,
    wo VERHÄNGNIS schon angekommen ist.

    Sie sind keine Road-Movies, die Filme Kelemens, so unentwegt unterwegs die Menschen auch sein
    mögen. Sie suchen keinen Horizont, wenn er nicht in ihnen selbst ist. Es sind Filme wie Kreuzwege
    auf den Kalvarienberg. Die führen durch alle Erniedrigungen und Schmerzen, durch alle Qualen der
    Hölle, die von dieser Erde ist. Der brotlos gewordene Glockengiesser lässt sich, die Füsse nach oben,
    hinauf ziehen in sein letztes Werkstück. Sein Kopf wird zum Klöppel, aber die Glocke ertönt, die
    sein vermisstes Kind nach Hause rufen soll. Man hört sie noch einmal, wenn das von der Geilheit
    ermordete Kind durch die Strassen der verlorenen Stadt getragen wird. Auf den Armen des Mannes,
    der nicht mehr in der Lage ist, von seiner Liebe zu sprechen. Jetzt sprechen seine Arme, die das
    Kind tragen, und seine Schritte auf dem Pflaster.

    (vom Autor gekürzte Fassung seines im Filmbulletin Nr. 3, 2004 erschienenen Textes, Sept. 2005)