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  • aufrechte Gang, Der

    PRESSESTIMMEN

    Frankfurter Rundschau, 29.6.1976

    Christian Ziewers Film heute auf dem Berlinale-Forum: Es ist wohl nicht ganz zufällig -wenn auch ohne bewusste Beziehung zu Wenders Film ("Im Lauf der Zeit")-, dass auch in Christian Ziewers "Der aufrechte Gang" der kritische Punkt im Leben des Helden Dieter Wittkowski erreicht wird, wenn er mit dem Vater zusammenstößt.... Kurz nach dem Krieg, als vorübergehend die Kommunisten Respektpersonen waren, hat ihn der Vater vor dem Haus eines Kommunisten öffentlich verprügelt. Dabei hatte sein Vater gewusst, daß Dieter keine Scheiben im Haus des Kommunisten eingeworfen hatte. Es waren die Söhne eines ehemaligen PGs. Auf Dieters drängende Fragen gesteht ihm sein Vater nun ein, dass Dieter die Prügel bekam, um den Verdacht von dem PG abzuziehen. Kurz darauf erhielt sein Vater von dem Mann, "der sich erkenntlich zeigte", ein Darlehen, womit er seinen heutigen Kleinbetrieb, seine "Existenz", gründen konnte. Es war also ein Geschäft, stellt Dieter fest. Und wenig später, als sich die Auseinandersetzung in der Familie zuspitzt, hält er seinem Vater entgegen: "Was ist das für eine Existenz, für die man andere in die Fresse schlägt?" Diese fragende Einsicht wird für Dieter zum Beginn seiner Suche nach Antworten. Ziewer hat -wie Wenders in der vergleichbaren Sequenz -die Geschichte seines Helden in diesem Augenblick zu einem Zentralpunkt geführt. In beiden Filmen wird nämlich die Frage gestellt, wie heute zu leben sei. Während Wenders seinen bürgerlichen Helden in eine vage individuelle Utopie aufbrechen lässt, in die Freiheit des "Es muss alles anders werden"-eine Hoffnung, welche bei Ziewer eher durch die Komposition der Schlusssequenz verhalten aufleuchtet: als gemeinsamer, ehrlicher, kollektiver Lebenskampf -, entlässt Ziewer seinen Dieter nicht aus der Umklammerung der Gesellschaft, die bei Wenders in dieser Konkretheit von sozialen ,psychologischen, historischen Details gar nicht vorhanden war ... Ziewer ist dabei etwas gelungen, was dem großen Vorbild der "Berliner Schule"- wozu er, Lüdcke/Kratisch und Max Willutzki gehören -, sehr nahekommt: nämlich Biebermanns "Salz der Erde", diesem emanzipatorischen Streikfilm, der schon seit geraumer Zeit wie ein "Panzerkreuzer Potemkin" des Arbeiterfilms in den Köpfen linker Filmemacher herumspukt. Dennoch erschiene es mir falsch, an der Vitalität und der mitreißenden Tendenzpoesie Biebermanns Ziewers kompaktere, weniger kämpferische als darstellend-ausbreitende Methode der Erzählung zu beurteilen. Das wäre idealistisch. Ziewers "Der aufrechte Gang" ist ganz eingelassen in die gesellschaftliche Situation der Bundesrepublik, und die Radikalität seiner Realismusvorstellung beweist er gerade dadurch, daß er die Krise im Leben Dieters als Folge v i e l e r widersprüchlicher Prozesse deutet, als Entdeckungsreise, bei der weder vorweg ein festes Ziel, noch ein Kompass als Orientierungshilfe vorhanden ist. Kein klarer Klassenstandpunkt, keine Klassen-Partei-Perspektive: beides wären angesichts der Totalität der erst einmal darzustellenden Widersprüche: nur Verkürzungen, Zurichtungen der Realität. Linke Gesundbeter dieser oder jener Couleursnuancen werden das rügen. Sie werden auch konsterniert vor dem Faktum stehen, daß Ziewer seinen proletarisch-kleinbürgerlichen Helden als Individuum ernst nimmt, als Mensch, der sich daran abarbeitet, seine persönliche Identität, eine Ethik (und nicht nur Taktik und Strategie) seines Lebens zu finden. Teile der Linken haben leider moralische und ethische Fragen (die doch für das Werk z.B. Blochs und auch Lukacs, der zuletzt an einer "marxistischen Ethik" geschrieben hat) r e c h t s liegen lassen - obgleich doch die Neue Linke des Vietnam-oder Springer-Protest nichts gewesen wäre ohne den strengen, kraftvollen moralischen Impuls und antizipatorischen Wunsch nach Gerechtigkeit, Wahrheit und Freiheit von Unterdrückung. Die Fragen, die nicht nur Dieter im "Aufrechten Gang" (nach einer einprägsamen Metapher aus Ernst Blochs "Naturrecht und menschlicher Würde"), sondern auch der Film insgesamt an den Zuschauer stellt, nämlich: wie erlange, bewahre und verteidige ich meine menschliche Würde (zu Hause und am Arbeitsplatz, individuell und kollektiv), diese Fragen nach der Integrität und Identität (die Ziewer wie auch Lüdcke/Kratisch schon in ihren früheren Filmen beschäftigt haben, aber noch nie so prononciert wie jetzt formuliert wurden) bestimmen Schauspielerhaltung, Montage, Bild- und Dingmetaphorik und den Erzählrhythmus von Ziewers Film. Ganz erstaunlich schon der Beginn, als Dieter, der Streikende, zu Hause bleibt und nur die Geräusche vom morgendlichen Aufbruch der anderen aus dem off in den Verlassenheitsraum drängen, indem er sich ungewohnt befindet. Ziewer hat immer wieder die Einsamkeit, die Leere, die Dieter umfängt, ihn von seiner Familie, den Kindern entfremdet, hervorgekehrt; aber er macht aus diesen vielen Momenten der Verlassenheit keine Melancholiestationen; es steckt darin vielmehr Erwartung, Abwarten, Orientierungssuche, nicht genießerische Lust am Verfall einer sozialen Beziehung, sondern schmerzlich genau beschriebene Isolation. Übrigens ist die Darstellung dieser Familie, der atomisierten Interessen ihrer einzelnen Mitglieder schon ein beachtliches Stück sozialer Beobachtung für sich. Zwischen epischer Beschreibung und lakonischer Andeutung (der Zusammenhalt der türkischen Familien während des Streiks) wechselt Ziewer. Er argumentiert; aber er sieht darauf, daß die Fülle seines Argumentationsmaterials (das umfangreich ist wie immer bei ihm, erst im reflektierenden Gespräch seine ganze Breite und Vielfalt bezeugt) keine falschen Akzente, keine Wunschperspektiven setzt. Wie der Film Dieter nichts an spitzigen Widerständen, Irrläufen und Sackgassen erspart, so auch nicht dem Zuschauer, der hier als Beobachter, Urteilender, Wägender respektiert wird. Erstaunlich ist nur nicht, wie intensiv Claus Ebert -der Hauptdarsteller der beiden vorausgegangenen Ziewer-Filme -die Rolle des Dieter schnörkellos erfaßt hat. Sondern wie auch -und zwar deutlich erkennbar im Verlauf des Films -Antje Hagen bisher vom Fernsehen "verheizt", als Dieters Frau Hanna, die sich gegen ihn durchsetzt, gleichzeitig mit seinem Widerstand solidarisiert und zuletzt sogar, ohne in der Pose einer heroischen "Mutter" zu erstarren, lernend Mut und Überlebenskraft vermittelt - wie diese Schauspielerin aus der Nebenrolle die aufregende Darstellung einer emanzipatorischen Aktivität entwickelt. Der Beziehungsreichtum, die leitmotivische Dichte des Films, seine konzentrierte Fülle, ist kaum ausschöpfbar. Mag sein, dass eine gewisse Schwäche in dieser Stärke liegt; aber die Schwächen unseres Lebens: kommen sie nicht aus der dichtgedrängten Fülle der Zwänge, der Eindrücke, der widersprüchlichen Erfahrungen, denen wir ausgesetzt sind, denen wir uns aussetzen und die mit uns gemacht werden, anstatt: -dass wir sie machen? Wir können uns - das eben heißt: Realismus (und nicht die Selektion gemäß unseren Wünschen)- ihnen nur stellen, sie aushalten, durchdringen. Je mehr im täglichen Kampf den aufrechten Gang einüben, aufrecht gehen, desto besser. Die "höchste Kunst, die Lebenskunst" (Brecht) ist kein Privileg weniger (wäre sie es, dürfte sie es nicht bleiben); als kollektiver Vorgang, als Totalität eines Lebenszusammenhangs, der Arbeit und Muße, Betrieb und Zuhause umgreift, könnte daraus mehr als nur der heroische Widerstand einer einzelnen Katharina Blum entstehen. Als höchste Kunst, ist sie auch die schwierigste; es kommt darauf an, im "falschen Leben" nicht dieses zu kopieren. Von den Schwierigkeiten der Ebenen berichtet Christian Ziewers Film "Der aufrechte Gang". In einem Augenblick, wo viele sich bücken, ist das ein Film -so brutal aufrichtig, so realistisch genau -wie wir ihn brauchen.
    Wolfram Schütte