| SPLITTER Afghanistan | ||
Deutschland 2013, 74 Min., Farbe, Digital, FSK ab 12 | |||
BESETZUNG | |||
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STAB | |||
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BIOGRAFIE | |||
HELGA REIDEMEISTER 1940 in Halle an der Saale geboren. Nach dem Studium der freien Malerei an der HfBK Berlin und fünf Jahren Sozialarbeit im „Märkischen Viertel“, studierte sie in den 70er Jahren an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb). Diplom 1979. Unterrichtet seit 1988 an verschiedenen Filmhochschulen im In- und Ausland. Dokumentarfilmpreis des Internationalen Frauenfilmfestivals Dortmund/Köln für ihr Lebenswerk. LARS BARTHEL Geboren 1953 in Erfurt. Kamerastudium an der Hochschule für Film und Fernsehen der DDR. Dort Meisterschüler Kamera. 1982 Ausreise aus der DDR. Fortan Arbeit als freier Kameramann. Mein Interesse gilt dem Dokumentarfilm und dem dokumentarischen Spielfilm. | |||
INTERVIEW | |||
INTERVIEW MIT HELGA REIDEMEISTER, Fragen: Gamma Bak, Juli 2013 1. Wie bist Du dazu gekommen diesen Film zu machen? Ich war äußerst beunruhigt als die Drohung „Enduring Freedom – Krieg gegen den Terror“ nach dem 11. September 2001 verkündet wurde. Ein grenzenloser Krieg, zeitlich und örtlich unlimitiert. Eine beängstigende Situation. Wir – Lars Barthel Kamera, Nic Nagel, Katharina Geinitz Ton - wollten nicht Zuschauer bleiben. 2. Wie unterscheidet sich dieser Film von den vorherigen beiden Filmen, die ihr in Afghanistan gemacht habt? Wie unterscheiden sich die Filme der Trilogie? Unser erster Film ist in Indien, Jugoslawien, Texas, Afghanistan gedreht, in vier kurzen Episoden. „TEXAS- KABUL“ portraitiert vier Frauen, deren Leben vom Kampf gegen Kriege geprägt ist. Eine der Frauen ist Jamila Mujahed aus Kabul, die mutige TV-Moderatorin, die als Erste ohne Schleier im afghanischen Fernsehen auftrat und die Herausgeberin der ersten Frauenzeitschrift „Malalai“ ist. Unser zweiter Film „ MEIN HERZ SIEHT DIE WELT SCHWARZ – Eine Liebe in Kabul“, über mehrere Jahre gedreht, dringt tief ein in die Familienkonflikte zweier afghanischer Familien - durch die Liebe zweier Menschen, die sich nicht lieben dürfen. Die Gewaltverhältnisse in einer muslimisch-patriarchalen Gesellschaft, in der Frauen total entrechtet sind, schafft Tragödien, die für uns unvorstellbar sind. Unser dritter und letzter Film S P L I T T E R AFGHANISTAN ist eine Liebeserklärung an die afghanischen Menschen. Sie spürten von Anfang an, dass wir Anteil nahmen an ihren Kriegsleiden und wie sie damit umgehen, klaglos und heiter - Allah will uns prüfen - . 3. Wie ist die Montage entstanden? Die Montage hat mit Unterbrechungen mehr als 2 Jahre gedauert. Ich empfand sie als äußerst schwierig. Die Trennung vom Material eine Qual. Es war mit so viel Anstrengungen entstanden. Nie habe ich die Bilder, die Kamera von Lars, als vordergründig empfunden. Immer als mitfühlend – mitdenkend, nahe an den Menschen erlebt. Ich war dankbar, dass Lars das Land und die Menschen liebte wie ich. Ich wollte seine Bilder nicht loslassen. Meine Cutterin Dörte Völz versuchte dann die schwierige Gratwanderung einer Montage, die keine stringente Geschichte erzählt, dabei jedoch die Spannung hält, indem eine Art poetische Distanz entsteht, die dem Zuschauer zugleich gedanklichen Raum für Reflexionen anbietet. In unserem letzten Film „ Mein Herz sieht die Welt schwarz – eine Liebe in Kabul“ haben wir ja eine sehr klare und auch aufregende Geschichte erzählt. Natürlich hatten wir auch diesmal zuerst wieder eine dramatische Erzählung vor, die aber an der Lage der Dinge, an den Realitäten des Krieges scheiterte. Unser Held sollte Sher Achmad sein, ein kleine Nomadenjunge, der sich so tapfer mit seinen Krücken abmühte und wieder laufen lernte. Wir hofften, er könne eine Metapher sein für Afghanistan in seinem Kampf um Selbstbestimmung und Befreiung von fremden Mächten. Aber wir konnten beim weiteren Drehen Kabul nicht mehr verlassen und den Jungen nicht erneut in seinem Dorf an der pakistanischen Grenze besuchen. Wir beschlossen dennoch nicht aufzugeben. Denn in Kriegszeiten können wir mitunter kaum mehr als Fragmente erwarten, nur Splitter von Geschichten. Splitter von Geschichten - Das schien uns ein berechtigter Ausgangsgedanke, uns in der Montage des Films frei zu machen von der Vorstellung, erneut eine stringente dokumentarische Geschichte erzählen zu wollen. Dieser Krieg in Afghanistan war und ist so ungeheuer aufgeladen mit sich durchkreuzenden Realitäten, dass ich auch inzwischen kapituliere und mich weigere meine „westlichen Hoffnungen” nach Afghanistan zu tragen. Auch nicht in diesem Film. 4. Wie ist die Musik entstanden? Das war spannend. Keinesfalls wollten wir einen Anklang heimischer, folkloristischer Musik. Krieg ist Überfall. Brutaler Einbruch von Außen. Eine nicht einschätzbare Katastrophe ohne Maß und Grenzen. Nichts bleibt, wie es ist oder war. „Konfliktbesetzt soll die Musik werden“ sagte die russische Komponistin Katia Tchemberdji, aber nicht „konfliktbeladen“, nicht schwer, eher atmosphärisch bedrohlich. Mit ihren synthetischen, ungewöhnlichen Tönen schafft sie einen Empfindungsfreiraum. 5. Woher kommt der Titel? Der Titel „Splitter“ hat mit unserer realen Erfahrung in Afghanistan zu tun. Die menschlichen Situationen und Begegnungen waren nicht bestellt oder gestellt, immer nur kurz, zufällig, fragmentarisch, änderten sich schnell, bevor wir sie tiefer erfassen, filmisch ausdrücken konnten. Wir wollten keinesfalls eine Kriegs-Reportage an der Oberfläche drehen. Lars sprach viel von einem „poetischen Realismus“, den er sich vorstellte. Ich von meinem Bedürfnis das Sichtbare und zugleich das Unsichtbare auszudrücken, mit Menschen, die uns berührten. In meiner Kindheit spielten S p l i t t e r für mich eine große Rolle. Ich bin Kriegskind. Ich hatte kein Spielzeug. Nach einem Granateinschlag suchten wir Kinder in der unmittelbaren Nähe des Einschlagkraters nach den stark farbigen, durch die Hitze veränderten, Granatsplittern – unser Spielzeug. In den 10 Jahren unserer Afghanistan-Aufenthalte erlebten wir unvergessliche, menschliche Begegnungen. Es blieben Fragmente – Erinnerungssplitter, die später in der Montage ihren Platz fanden. 6. S P L I T T E R AFGHANISTAN ist Alberto Cairo und seinen Mitarbeitern im Orthopädischen Zentrum, ICRC in Kabul, gewidmet. Kannst Du kurz erzählen was Dich dort besonders beeindruckt hat? Alberto Cairo ist ein enthusiastischer, altruistischer Mensch. Unterschiedslos liebt und behandelt er alle Menschen. Daraus schöpft er seine scheinbar unbegrenzten Kräfte. Wo immer möglich hat er uns unterstützt, Rat gegeben, ermutigt. Seine Lebensphilosophie: „I always think positiv“! beeinflusst alle in seiner Nähe. Er ist glücklich, wenn er Andere glücklich machen kann. Aus allen Teilen des Landes strömen die Menschen zu ihm. Mit Kamelen, Pferden, Mulis, Bussen oder zu Fuß. Sie wissen, dass er ihnen helfen wird, nicht nur mit Prothesen und Rollstühlen, auch mit Lern– und Ausbildungs-Chancen. Für ihn gilt: "Ein Bein nicht genug" ! "Man muss Lebensperspektiven schaffen“ ! Inmitten Leiden und Verlusten solch ein konstruktives, heiteres Klima, wie im Orthopädischen Zentrum – das hat mich am meisten beeindruckt. 7. In welchen Jahren wart Ihr in Afghanistan? Wie hat sich die Situation für Euch dort über die Jahre verändert? 2002 waren wir zum ersten Mal in Kabul und im Orthopädischen Zentrum. 58 000 Prothesen und 5 000 Rollstühle waren bereits verteilt. Es war uns schnell klar, das würde der Ort sein, wo wir drehen könnten. Wir waren immer willkommen. Die Menschen nahmen uns herzlich auf, weil sie spürten, dass wir uns für sie interessierten, wie sie es geschafft hatten durchzuhalten. Sie verstanden, dass wir für sie sprechen wollten und hatten spontan Vertrauen zu uns. Die zunehmende Präsenz militärischer Fahrzeuge, die immer monströseren Sperranlagen vor öffentlichen Gebäuden, die Zunahme von Kontrolltürmen, NATO-Draht-Gittern, platzfressenden Panzersperren - Kabul wurde immer provozierender, ein hochgerüstetes, bedrohliches Militärlager. Parallel stiegen die Anschläge der Taliban nicht nur in Kabul, auch im Süden und Norden des Landes. Eine Spirale aus Spannungen und Gewalt schraubte sich hoch. Auch durch den sich ständig ausweitenden Drohnenkrieg mit immer höheren Opferzahlen unschuldiger Zivilisten. Die Taliban bekamen immer mehr Zulauf. Auch durch die Schutzgelder, die sie verteilen konnten, als Sicherheitsgaranten westlicher Aufbau-Projekte und der militärischen Versorgung des USA- und NATO-Nachschubs. Nach Aussagen unseres afghanischen Freundes Khazan, haben sie das meiste Geld, Milliarden westlicher Aufbau-Hilfen, abgeschöpft. „Wo Taliban sind ist Geld“, sagt Khazan. Die ungeheure Armut tut ihr Übriges. Wer Geld nötig hat, geht zu den Taliban. Die Taliban als Ordnungs-Macht erlebten einen nicht schätzbaren Zuwachs. Die Duldung der USA- und NATO-Streitkräfte war längst umgeschlagen in massive Ablehnung. Die Opferzahlen in der Zivilbevölkerung hatten beängstigend zugenommen. Nach afghanischer Zählung (Le Monde Diplomatique) sind seit dem NATO-Einsatz Okt. 2001, ca. 50 000 afghanische Zivilisten umgekommen. Die Rache für jeden Toten, traditionell in der Gesetzgebung der Paschtunen gefordert, existiert im Bewusstsein der westlichen Streitkräfte nicht. Offiziell gibt es ja auch keinen Krieg. Es war ja nur die ‚Afghanistan-Mission’. Im Mai 2011 war ich zum letzten Mal in Afghanistan. Es wurde für mich persönlich eine schwierige Zeit. Ich fühlte mich in dem total abgesicherten Hotelgelände eingesperrt. Ich spürte, dass ich in diesem Land nicht mehr willkommen war und fragte mich, wie ich, oder wir in wenigen Jahren vom Freund zum Feind werden konnten. Das war eine einschneidende, schmerzliche Erfahrung für mich. Ich hatte das Gefühl, dass ich die Menschen nicht mehr erreichen konnte. Wir besuchten die Familie aus unserem Film " Mein Herz sieht die Welt schwarz - Eine Liebe in Kabul " und sie baten uns tatsächlich, sie nicht wieder zu besuchen, auf keinen Fall wieder zu kommen. Weil es für sie zu gefährlich geworden war, Ausländer als Gäste zu haben. | |||