| Jungs vom Bahnhof Zoo, Die | ||
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Die Jungs vom Bahnhof Zoo Rosa von Praunheim begegnet Strichern, Freiern, Barbesitzern und Sozialar- beitern in Berlin. Ein schonungsloses und bewegendes Mosaik über die Welt der mann- männlichen Prostitution Kino, das ist für Rosa von Praunheim Leben. Seine Filme, ob fiktiv oder dokumen- tarisch, sind immer zugleich Politik und Poe- sie, pragmatische Lebenshilfe und künstlerische Reflexion. Und Praunheim ist als Filmemacher stets Teil der Welten, die er porträtiert: als Provokateur, Impresario oder Forscher und in letzter Zeit als neugierig-be- obachtender Gesprächspartner. Jetzt hat Praunheim eine Art dokumentarisches B-Pic- ture über das Phänomen der Männerprostitu- tion gemacht, schnell und doch genau über- legt, schmutzig und doch voller Emotionen. Was Praunheims Doku von gängigen TV- Reportagen unterscheidet, sieht man schon daran, wie er Gesichter zeigt und auf den Zu- schauer wirken lässt. »Wounded Faces« haben sie alle, die ehemaligen und noch aktiven Stri- cher vom Bahnhof Zoo, jener Endstation der Sehnsüchte mitten in Berlin. Am stärksten gezeichnet ist zweifellos Nazif, ein Roma, der aus den Wirren des bosnischen Bürgerkriegs nach Berlin kam. Als Kind noch begann er für die Familie zu betteln und zu klauen, bald wur- de er zum Stricher, was ihm den Respekt seiner Familie gekostet hat. Nazif ist der totale Außen- seiter: schwul, Roma, drogensüchtig, kriminell, von der Gesellschaft und der eigenen Familie benutzt und ausgestoßen. Seine Erfahrungen hat er in seiner Autobiografie »Fluchtver- suche« niedergeschrieben. Heute lebt er in Wien, ein Schattenwesen, jenseits der Endsta- tion, mit einer sublimen Ausstrahlung. »Fluchtversuche«, dieser Titel passt in doppelter Weise zur Stricherwelt um den Bahnhof Zoo. Fluchtversuche sind es nämlich oft, die die Jungs dorthin treiben. Flucht aus den kaputten Familien oder aus Jugendheimen wie meist bei den deutschen Strichern. Oder Flucht aus der wirtschaftlichen Misere, wie meist bei ausländischen männlichen Pros- tituierten. Die schönen jungen, oft heterose- xuellen Männer ganzer Roma-Dörfer gehen, wie es Praunheim mit Hilfe von Sozialarbei- tern aufzeigt, in Berlin anschaffen. Fluchtver- suche sind es dann auch wieder, die die Jungs unternehmen, um aus der Welt des schnellen Geldes und des schnellen Elends auszubre- chen. Die Endstation als möglicher Ausgangs- punkt, die leise Hoffnung auf ein einfaches bürgerliches Leben. Ein seltsamer Knotenpunkt ist der Bahn- hof. Symbol und Manifestation des Zusam- mentreffens von alt und jung, von reich und arm, von spießig und exotisch, von schwul und heterosexuell. Die Welt des Bahnhofs ist ein Abenteuerspielplatz und ein Fleischmarkt, ein Dschungel des Begehrens. Praunheim lässt neben den Strichern auch Barbesitzer und Sozialarbeiter zu Wort kommen. Sie sind die desillusionierten Beobachter der Szene und gelegentliche aufopfernde Ausbruchshelfer. Praunheims Film ist ein facettenreiches, aufrichtiges Werk. Wer kann das in Deutsch- land: einen sozialkritischen Film machen, der zugleich den Atem von Jean Genet, John Rechy und Pasolini spüren lässt? Kino, das ist für Rosa von Praunheim Leben. epd-Film - Hans Schifferle ___________________________________________________________________________________ Die Jungs vom Bahnhof Zoo Filme über Strichjungen neigen nicht selten dazu, an ihren eigentlichen Protagonisten vorbei zu filmen. Die männlichen Prostituierten vom Straßenstrich fördern eine sensationsheischende Berichterstattung über angebliche soziale, moralische und sexuelle Abgründe ebenso wie eine oberflächliche Romantisierung, die, vor allem in Spielfilmen, Stricher zu verwegenen Abenteurern überhöht. Rosa von Praunheim tappt mit „Die Jungs vom Bahnhof Zoo“ in keine dieser Klischeefallen. Stattdessen liefert er einen unaufgeregt erzählten, handwerklich sauber gearbeiteten Dokumentarfilm, der sich weniger für das Milieu interessiert als für die Menschen, die darin leben. Spätestens seit seiner viel beachteten autobiografischen „Spurensuche“ in „Meine Mütter“ (fd 38 622) hat sich herumgesprochen, dass Regiearbeiten von Praunheims längst nicht mehr automatisch provokant, schrill und im Underground-Stil gedreht sein müssen. „Die Jungs vom Bahnhof Zoo“ präsentiert sich visuell als solide Fernsehproduktion, deren Kinoauswertung sich formal allerdings kaum rechtfertigen lässt. Zu deutlich wurden die sprechenden Köpfe für den Bildschirm zurecht kadriert. Wie sehr sich aber neben dem Regisseur auch die mediale Wirklichkeit in Deutschland verändert hat, belegt ein Fernsehausschnitt aus der „Abendschau“ vom 6. Juli 1965, mit dem von Praunheim seinen Film eröffnet und in dem Homosexuelle mit „asozialen Elementen“ in Verbindung gebracht und Strichjungen gar als „unverbesserliche Parasiten der Gesellschaft“ diffamiert werden. Dass ein solcher Bericht im deutschen Fernsehen heute nicht mehr denkbar wäre, heißt freilich nicht, dass sich die Lage der Strichjungen in Berlin grundlegend verbessert hätte. Rosa von Praunheim lässt in seinem Dokumentarfilm fünf ehemalige Stricher vom Bahnhof Zoo ausführlich zu Wort kommen. Unmittelbare Einblicke in die gegenwärtige Stricherszene liefert er dagegen kaum. Von Praunheim geht es nicht darum, Prostituierte vor die Kamera zu holen, die noch immer ihrem Gewerbe nachgehen. Auf den ersten Blick mag das als Schwäche des Films erscheinen. Tatsächlich aber gewinnt er durch den zeitlichen Abstand an Tiefe: Erst im Rückblick sind die Männer in der Lage, ihr Leben auf dem Strich (selbst-)kritisch Revue passieren zu lassen. Nur so kann der Film beispielhaft der Frage nachspüren, was eigentlich aus den hübschen, jungen Kerlen wird, wenn sie zu alt sind, um ihre Körper zu verleihen. Drei der Protagonisten sind Roma. Einer von ihnen erzählt, wie seine Eltern ihn als Kind zum Klauen schickten. Als der Vater herausfand, dass er heimlich auf den Strich ging, goss er Feuerzeugbenzin auf seinen Po und zündete es an. Ein anderer kommt aus einem kleinen, armen Dorf in Rumänien, in dem fast alle jungen Männer irgendwann in Berlin auf dem Strich landen. Von Praunheim begleitet einen davon, Ionel, in seine Heimat, darf ihn filmen, wie er mit seiner glücklich lächelnden Mutter tanzt. Aber das Thema Prostitution bleibt in diesem Dorf der Prostituierten tabu. Es sind harte Lebenswege, die von Praunheim nachzeichnet. Daniel, der im Zentrum steht, erinnert sich, wie er von seiner Mutter misshandelt wurde und die glücklichste Zeit seines Lebens in einem Heim verbrachte. Ein anderer nennt den Straßenstrich eine Art „Abenteuerland“. Daniel-Rene, der schon als Minderjähriger auf den Strich ging, erzählt, dass er seine Freier lange für eine Art Ersatzfamilie hielt. Solange, bis er volljährig wurde, sie das Interesse an ihm verloren und ihn fallen ließen. Auch diese Erfahrung lässt sich nur im Rückblick aufarbeiten. Rosa von Praunheim verbindet emotionale Nähe mit nachdenklicher Distanz. Neben den ehemaligen Strichjungen lässt er Streetworker und mit dem Regisseur Peter Kern auch einen Freier von ihren Erlebnissen berichten. So entsteht ein Film, der aufwühlt, ohne zu moralisieren, ohne zu verharmlosen und ohne unnötiges Pathos. FILM-DIENST - Stefan Volk ___________________________________________________________________________________ Erst die Musik, dann der Strich Rosa von Praunheim kennt keinen Stillstand. Im letzten Jahr zeigte er seine nostalgischen „New York Memories“, nun kehrt er zurück auf den harten Boden der deutschen Realität. „Die Jungs vom Bahnhof Zoo“ beginnt mit einem Fernsehbericht aus dem Jahre 1965, er nennt Deutschlands bekanntesten Männertreff mit unverhohlener Abscheu einen „Treffpunkt von Asozialen“. Andere Zeiten, man lacht – aber zum letzten Mal. Denn die Biografien der Stricherszene offenbaren ein unvorstellbares Maß an sozialem und psychischem Elend. Sicher, es gibt sie, die Jungs mit der Lust auf Abenteuer und das schnelle Geld. Daniel, aus zerrütteter Familie und heute 28 Jahre alt, darf über ein normales Leben danach immerhin nachdenken. Andere kamen über den Missbrauch auf den Strich, gerieten an Drogen oder den szenebekannten Kinder-Karsten, wussten nicht wie ihnen geschah und sind heute seelisch gebrochen. Drei der fünf Strichjungen, die Rosa von Praunheim in seinem Film vorstellt, sind Roma. Nachdem die Deutschen ins Internet abgewandert sind, gehört die Straße heute Kindern und Jugendlichen aus Südosteuropa. Für ihre Familien und Clans haben sie Geld zu beschaffen, egal wie. Unter großem Risiko besucht der Regisseur ein bitterarmes Roma-Dorf in Rumänien, wo keiner davon wissen darf, dass es in Deutschland, neben dem Musizieren und Betteln, auch lukrativere Geschäfte gibt. Homosexuelle Handlungen – die wenigsten Roma-Prostituierten sind selbst homosexuell – gelten dort als untilgbare Schande. Darzustellen, welch erschütterndes Leid sie auf sich nehmen, ist Praunheim ganz klar eine Herzensangelegenheit. Dazu gehört die Gegenseite. Als Freier offenbart sich neben anderen der österreichische Schauspieler Peter Kern. Zu dick und zu hässlich, wie er in einem schonungslosen Interview selbst meint, sei er auf die gekaufte Liebe stets angewiesen gewesen. Zärtlichkeit wolle er erleben und geben dürfen, die Jungs sollten es schön haben bei ihm. Man kann davon halten, was man will. Es ist jedoch, keinen anderen Schluss lässt der Film zu, die Ausnahme. FRANKFURTER RUNDSCHAU - Philipp Bühler ___________________________________________________________________________________ »Ich sah aus wie acht« Rosa von Praunheim liebt Blumen. Zu Anfang seines Dokfilms »Die Jungs vom Bahnhof Zoo« blüht Rhododendron, dazu 20er-Jahre-Musik, Schwarzweißfotos von schönen Jungs aus Weimarer Zeiten, kurz sieht man einen Männerporno. Ab da ist Schluß mit kitschig. Es folgt ein Ausschnitt aus einem Film der Westberliner Polizei von 1965. Bahnhof Zoo, Stimme des Polizeisprechers: Dies sei ein Tummelplatz für Strichjungen, sie kämen vor allem aus Westdeutschland, da Männer nur in Berlin mit Männern tanzen dürften. Diese kriminellen Elemente seien hoffnungslos verdorben. Mit Grauen erinnere ich mich an Sprüche wie: »Euch hat man vergessen zu vergasen!« Oder: »Unter Hitler wär das nicht passiert!« Wechsel ins Heute: wieder Bahnhof Zoo, diesmal in Farbe. Ein junger Mann, Dany, heute Vater einer Tochter, wird gefragt: »Also damals warst du hier anschaffen?« Danys Mutter mißhandelte ihre Kinder regelmäßig, kochte naßgepinkelte Bettlaken aus und ließ sie die Brühe trinken. Über das Jugendamt kam Dany in eine Pflegefamilie. Hier gab es Lichtschranken in der Wohnung und sexuellen Mißbrauch. Die nächste Station war ein Kinderheim. Im Film macht er das Tor auf, sagt, das sei die schönste Zeit seines Lebens gewesen. »Dort gab es einen Erzieher, Zweimetermann, Holger, den hab ich geliebt! Nur er konnte mich beruhigen, der hat mich verstanden!« Nach dessen Weggang sei er abgerutscht, lernte in einem Heim das Autoknacken, das ihn in den Knast brachte. Wieder raus, stand er mit 15 das erste Mal am Bahnhof Zoo: »Ich sah aus wie acht.« Sozialarbeiter des Hilfeprojekts Subway erklären, daß Initiativen wie ihre erst mit der AIDS-Hysterie möglich wurden. »Wir sollen nur AIDS-Prävention machen, aber wir machen viel mehr«, sagt Streetworker Sergio, ein Rumäne, der sechs Sprachen beherrscht. Lebensläufe werden parallel verfolgt. Einer, der als Kind vom Vater für das Auf-den-Strich-Gehen mit Benzin übergossen und angezündet wurde, wirkt völlig gebrochen. Er ist auf Methadon. Dann geht die Reise in ein rumänisches Dorf, das es nicht mehr gäbe, wären nicht alle seine Jungs als Stricher in Berlin tätig gewesen (Foto). Keine Minute ist der Film langweilig, die Biographien sind miteinander verwoben, jede auf ihre Weise traurig. Die Darstellung ist subtil, frei von Exibitionismus. Die Konkretheit der aufeinander zugeschnittenen Interviewpassagen sorgt dafür, daß man sich diesen Menschen langsam nähert, schließlich scheint man sie gut zu kennen. Es kommen auch Freier zu Wort, sogar mit Namen und Gesicht, aber während die Sehnsucht der Kinder auf Akzeptanz, Beachtung, Zuwendung und Anerkennung gerichtet ist – Zärtlichkeitsbedürfnisse machen da den geringsten Teil aus, Sexualität erleben sie nicht als Bedürfnis, sondern als Dienstleistung –, sind die Sehnsüchte der Freier fixierter (Jungen von 16 bis 20), festgelegter, oft erleben sie sich als »Opfer« der Kinder (Diebstähle). Die Jungs sind zu früh mit der Erwachsenensexualität in Berührung gekommen, erklärt die Ärztin von Subway. Sie konnten tagelang nicht sitzen, ekelten sich, hatten Schmerzen beim Wasserlassen. Später nahmen manche die Freier aus, um sich zu rächen – ein kompliziertes Feld, sehr eingehend und durchweg spannend analysiert. Nach der Vorführung holt der Regisseur mit Blumen am Revers die Protagonisten auf die Bühne. Es gibt viel Beifall für den großen Mut der Beteiligten. »Wir wollten nicht mehr schweigen«, sagt derjenige, der als Sechsjähriger von einem Hausmeister mißbraucht wurde. »Wir wollten uns zu Wort melden, um für unsere Würde zu kämpfen.« Das ist gelungen. JUNGE WELT - Anja Röhl ___________________________________________________________________________________ Das Fleisch ist schwach Rosa von Praunheim traf "Die Jungs vom Bahnhof Zoo". Im Gespräch mit dem Tagesspiegel erzählt er von seiner Angst vor dem Strichermilieu und den Sehnsüchten der Freier. Im alten West-Berlin konnte man nicht mit der Bahn verreisen, ohne die Stricher und Drogenabhängigen vom Bahnhof Zoo und deren Kunden wahrzunehmen. Eltern gerieten in Erklärungsnot, wenn ihre Kinder unbequeme Fragen stellten. Was machen die hier am Bahnhof, wenn sie sich gar nicht für die Bahn interessieren? Ein Kultbuch und ein Kultfilm haben einige dieser Fragen beantwortet. Ganz Deutschland kannte bald die Geschichte von Christiane F., dem Mädchen vom Drogenstrich. Und nicht alle verstanden die Geschichte als Warnung. „Viele aus der Provinz fanden das toll und wollten auch mal auf den Strich gehen“, erinnert sich Rosa von Praunheim, dessen neuester Film von diesem Ort handelt. „Und dann sind sie in Drogenmilieus gekommen und versackt.“ Strichjungen kommen in der Geschichte von Christiane F. nur als Nebenfiguren vor. Das Schicksal eines Christian F. hätte die Nation nicht so tief bewegt. Weibliche Prostitution wird traditionell romantisiert, der Kontakt zu Kunden wie Hugh Grant oder Silvio Berlusconi lustvoll ausgemalt. Die einzigen Stricher, die es mit Foto auf die Titelseite geschafft haben, sind die Mörder von Pier Paolo Pasolini und Rudolph Mooshammer. Nicht Desinteresse oder fehlende Fördergelder, sondern schlicht Angst erklärt Rosa von Praunheims sehr späte Beschäftigung mit einem Thema, das eigentlich längst Geschichte ist. Er selbst wird es nicht weiterverfolgen. „Das ist halt ein kriminelles Milieu, da werden Adressen weitergegeben, da werden Leute überfallen, werden Leute ausgeraubt. Bei Drogen und Armut ist das auch verständlich. Deswegen bin ich auch froh, dass ich das ganz gut überstanden habe.“ "In der Schwulenszene wirst du nach deinem Körper beurteilt. Bei den Strichern als Mensch" Fünf Stricher hat Praunheim porträtiert. Gewalt im Elternhaus, Erziehungsheim und Jugendknast sind die üblichen Stationen. Direkt zur Prostitution gezwungen wurden sie nicht, es hat sich einfach so ergeben – und es gab keine Alternative. Diese Jungen sind nicht sozial abgestürzt, sie sind unten geblieben. Deshalb besteht für sie kein Grund, das Anschaffen zu bereuen. Eine Ausnahme ist der in Ost-Berlin aufgewachsene Daniel- René, der seit seinem sechsten Lebensjahr von einem Hausmeister missbraucht und an andere Pädophile weitergereicht wurde. Seine Peiniger waren zugleich seine Familie, deshalb hat er sich so viel gefallen lassen. Auf die Frage, ob auch Analverkehr mit ihm praktiziert wurde, antwortet er: „Ja, aber da war ich schon acht Jahre alt.“ Der Pädophilenring, mit dem er seine Kindheit verbracht hat, ist inzwischen aufgelöst worden, und Daniel-René scheint in guten Therapeuten-Händen zu sein. Kein Grund zum Aufatmen: Praunheim ist überzeugt davon, dass diese Subkultur weiter existiert. Er selbst hat sich, anders als so viele Zeitgenossen, zwar nie für die „sexuelle Befreiung des Kindes“ eingesetzt, aber er hat die Gefährlichkeit dieser Bestrebungen lange Zeit unterschätzt. Jetzt denkt er anders über den Umgang mit Kindersexualität: „Da bin ich auch einiger Illusionen beraubt worden.“ Nicht weniger schockierend sind die Erzählungen von Nazif, einem bosnischen Roma, der von seinen Eltern zum Dieb abgerichtet worden ist. Als sein Vater erfuhr, dass er seinen Körper für Männer verkauft, fügte er ihm schwere Brandverletzungen zu. Für Nazif war das Gefängnis die Rettung, hier hat er Lesen und Schreiben gelernt. In einer bewegenden Ansprache entschuldigt er sich bei den Opfern seiner Raubzüge. Ionel dagegen, ebenfalls Roma, könnte jederzeit MTV- Moderator werden. Die ärmlichen Verhältnisse, aus denen er stammt, sind ihm nicht anzusehen. Die anderen Stricher, die Praunheim aufgesucht hat, scheinen den Ausstieg zu bewältigen. Keine Selbstverständlichkeit. „Wer früh in eine Stricherszene kommt, verliert die beste Zeit seines Lebens. Wo du etwas lernen, in die Schule gehen, einen Beruf erlernen kannst. Da versäumen sie einen bürgerlichen Einstieg, und der ist dann ab einem gewissen Alter schwer nachzuholen.“ Ein Aspekt der Stricherszene, der Praunheim besonders am Herzen liegt, ist die HIV-Prävention. „Das war meine Arbeit zehn Jahre lang, da habe ich ja so viel Schelte bekommen von den Aids-Organisationen durch meine Aids-Filme und meine öffentlichen Auftritte für Prävention. Man muss immer wieder bei jungen Leuten Aufklärung betreiben oder auch bei älteren, damit klar wird, positiv zu werden ist gesundheitlich nicht sehr angenehm.“ Und die Kunden? Der Schauspieler Peter Kern, der mit seinen 160 kg niemanden abzukriegen glaubt, erscheint wenig repräsentativ. Ein anderer Mann sagt nur im Halbdunkel aus, ein weiterer mit Maske, und beide verraten nicht viel. Praunheim, der im Film unsichtbar bleibt, verrät wenigstens im Gespräch, warum er gelegentlich 30 Euro in einen Stricher investiert: „Das Schöne ist ja, im Gegensatz zur Schwulenszene, dass du nicht aufgrund deines Körpers beurteilt wirst, sondern als Mensch, wie du dich dem Stricher gegenüber benimmst.“ Und was die anderen Freier angeht, die im Tiergarten oder in der schwulen Sauna jeden Mann umsonst haben könnten und stattdessen bezahlen: „Viele wollen ja keine Schwulen, die wollen Heterosexuelle. Sie wollen diese Illusion, da ist so ein richtiger Kerl, und vielleicht ist da auch ein gewisser Masochismus, ein Selbsthass.“ Der Kunde, das unbekannte Wesen. Filmemacher, die auf der Suche nach einem Thema sind, sollten sich durch Praunheims Dokumentation angesprochen fühlen. TAGESSPIEGEL - Frank Noack ___________________________________________________________________________________ MILIEUSTUDIE Doku: Rosa von Praunheim erzählt die Lebensgeschichten von fünf jungen Männern, die in Berlin als Stricher ihr Geld verdienen. Seit über 40 Jahren erzählt der Regisseur Rosa von Praunheim davon, was schwules Leben bedeuten kann. Besonders in seinen Dokumentarfilmen entlarvt er Klischees und Stereotypen, stellt dazu auch unangenehme Fragen und egal wie sehr er auch nachbohrt, selten verliert er dabei den Humor und fast nie das Verständnis für die Befragten. All das trifft auch auf seinen jüngsten Film zu: In "Die Jungs vom Bahnhof Zoo" hat sich der 68-Jährige die Berliner Stricherszene vorgenommen und versucht herauszufinden, was das für junge Männer sind, warum sie anschaffen gehen und wie es ihnen damit geht. Der Bahnhof Zoo, einst Hauptbahnhof von Berlin-West, erlangte durch die Geschichte der Fixerin Christiane F. traurige Berühmtheit. Doch heute stehen hier kaum noch Stricher und Prostituierte; zu unwichtig ist der Bahnhof in der neuen Geografie Berlins geworden. Die meisten suchen sich ihre Freier im Internet. Doch um die anderen, die ihre Kunden nicht im Netz finden können, weil sie dafür zu arm sind oder kein Deutsch können, geht es in "Die Jungs vom Bahnhof Zoo". Die Gründe für die Prostitution sind so unterschiedlich wie die Jungs selbst: Daniel zum Beispiel wuchs in einem Heim auf und geriet dort erst ans kleinkriminelle, später dann ans Strichermilieu. Ionel dagegen ist aus einem rumänischen Dorf nach Berlin gekommen, wo er neben seiner Tätigkeit als Straßenmusikant schnelles Geld auf dem Straßenstrich verdient. Daniel ist schwul, Ionel hingegen heterosexuell. Einige der jungen Männer wissen offenbar genau, was sie da tun. Andere leiden unter schlimmen physischen und psychischen Folgen, weil sie die Gefahren dieser Arbeit nicht einschätzen können. "Die Jungs vom Bahnhof Zoo" ist ein sensibler Film, eine höchst aufklärende Dokumentation, die zutiefst erschüttert und trotzdem nie belehrend oder humorlos daherkommt. FLUTER - Nina Scholz ___________________________________________________________________________________ Ungerade Geschichten PROSTITUTION Rosa von Praunheims sensible Doku "Die Jungs vom Bahnhof Zoo" gewährt Einblicke in das Leben von Strichern. Das Wort, das mindestens zweimal fällt, lautet "vorprogrammiert". Von Missbrauch, sozialer Vernachlässigung, Armut zur Prostitution ist es nur ein kurzer Weg, das zeigt dieser Film, die Dokumentation "Die Jungs vom Bahnhof Zoo" des schwulen Kultregisseurs Rosa von Praunheim. Von Praunheim hat einen erstaunlich uneitlen, klug montierten und an Einblicken reichen Dokumentarfilm über vorwiegend ehemalige Stricherjungen vom berühmten Bahnhof Zoo vorlegt. Unterstützt nicht nur vom RBB, sondern auch vom Bundesbeauftragten für Medien und Kunst. "Vorprogrammiert": Der Film begleitet fünf Stricher, beleuchtet Umfeld und Hintergründe, rückt die Sozialarbeit nach vorn, spricht mit Szenewirten und im Falle des österreichischen Filmemachers Peter Kern sogar mit einem Freier. Was wir hören, sind diverse ungerade Geschichten: Die von Daniel-René zum Beispiel, der schon als Grundschüler vom Hausmeister missbraucht und allmählich in einen Ring aus Päderasten, Heimpornodrehs und versteckter Zuhälterei gezogen wurde. Mit 18 ist er auf sich selbst gestellt, ein paar Jahre später erfährt er, dass sein "Umfeld" endlich von der Polizei hochgenommen werden konnte. "Und ich dachte, das seien meine Freunde", sagt er im Wortsinn. Das Bildmaterial - gedreht wurde auf DigiBeta - bleibt zurückhaltend, es gibt einige Shots von Orten, U-Bahn-Stationen, Bars rund um den Zoo und in Schöneberg-Nord, aber es wird nie etwas ausgestellt, auch nicht die Körper der Protagonisten. Allein der Besuch im rumänischen Dorf, aus dem der Rom Ionel stammt, gerät recht folkloristisch samt geschlachteter Ziege, aber insgesamt liegt der Schrecken in den Körpern, subkutan, und in den Geschichten, die zu erzählen sind. Das gilt sogar für den Bosnier Nazif, der als Kind und Bürgerkriegsflüchtling nach Deutschland kam und früh Erfahrungen mit Missbrauch, Drogen, Anschaffen, Liebesversuche mit Freiern machen musste, bis man ihn wieder abschob. Und doch kann man gerade bei Nazif auch die Spuren sehen. Die Narben. Die Wunden. Den Schorf. Und die Weggetretenheit, die Betäubung, die vom Methadon herrührt. Hartes Zeug also, das hier präsentiert wird. Allerdings gelingt es von Praunheim, nie eine Achtzigerjahre-Problemfilm-Betroffenheit aufkommen zu lassen. Auch bleibt es, was die Analogien zu Christiane F. als Exempel des Heroinruins der Siebziger-/Achtzigerjahre betrifft, bei der Referenz im Filmtitel. Klar, es gibt und gab Drogen (vornehmlich ist von Ecstacy und Koks die Rede), Popkultur hingegen interessiert schon eher weniger (das Wort "Loveparade" fällt nicht einmal; dafür rückt die "Berlinale" einige Male ins Bild). Rosa von Praunheim interessiert sich tatsächlich für etwas, das dem ganzen eher entgegengesetzt zu sein scheint, aber, wie es der Freier Kern zeigt, gar nicht unbedingt entgegengesetzt ist: Man nennt es Liebe. "Stricher, Huren sind Heiler", sagt Kern. Von dieser Perspektive hätte man gern noch mehr gehört. Aber auch so reicht es, um zu sehen, dass das Politische dieses Themas nicht fern ist. Dass es in der Hauptsache ums schnelle Geld geht, auch um die Familie in Rumänien mitzuernähren. Gebürtige Deutsche als Stricher, auch das erfährt man, gibt es so gut wie gar nicht mehr. Es sind die Migranten, die hier ausgenutzt werden, sich ausnutzen lassen. Um irgendwie ein Leben hier und dort führen zu können. Aber es geht auch um die Spiralen der Gewalt, um die "vorprogrammierten" Abstürze in das soziale Elend, in den Moloch, der Berlin ist oder sein kann. Ob am Bahnhof Zoo, in Schöneberg, in der Platte oder sonst wo. TAZ - René Hamann |