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  • Verzeihung, ich lebe

    Deutschland/Polen 2000, 16mm, Frabe, 81 Min.
    Uraufführung: Internationales Forum
    des Jungen Films, Berlinale 2000



    STAB

    Regie
    Buch
    Kamera
    Schnitt
    Musik
    Ton
    Tonmischung
    Licht
    Fachberatung
    Redaktion
    Produktion
    Andrzej Klamt
    Andrzej Klamt, Marek Pelc
    Vladimir Majdandzic
    Zygmunt Dus, Ewa Dus
    Ulrich Rydzewski
    Alex Epstein, Bohdan Palowski
    Tom Blankenberg
    Michael Weihrauch
    Hanno Loewy, Krystyna Oleksy, Marek Pelc, Zygmunt Pluznik
    Esther Schapira
    halbtotal filmproduktion in Koproduktion mit dem Hessischen Rundfunk, Appel Film Production, Ulrich Rydzewski Filmproduktion, Canal+ Polska, mit Unterstützung der Hessischen Filmförderung u. des Filmbüro NW. Mit freundlicher Unterstützung des Staatlichen Museums in Auschwitz und des Fritz-Bauer-Institutes.


    BIOGRAFIE

    BIOFilmografien

    Marek Pelc:
    geb. 1953 in Wroclaw, Polen. Emigrierte 1969 nach Israel. Armeedienst. Studium der Geschichte und der Philosophie an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Studium der Germanistik an der J. W. Goethe-Universität in Frankfurt/Main. 1996-1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fritz Bauer Institut, Frankfurt/Main. Publizist und Literaturübersetzer (Hebräisch, Polnisch, Deutsch).

    Andrzej Klamt:
    geb. 1964 in Bytom, Polen. Studium der Slavistik und der Filmwissenschaft in Frankfurt/M. 1989 Studienaufenthalt in der UdSSR. Seit 1991 freier Filmautor und Regisseur mit Schwerpunkt Ost- u. Mitteleuropa. Lebt und arbeitet in Wiesbaden.
    Eine Filmauswahl Andrzej Klamt

    1993 Zeichner des Gulag, 75 Min.;
    zusammen mit H.P. Böffgen
    1998 Pelym, 115 Min,
    zusammen mit U. Rydzewski
    1999 Baku, ein Porträt in Öl, 52 Min.,
    TV-Dokumentation
    2003 Wer bin ich? Schlesische Lebens-
    läufe, 88 Min.
    2004 Carpatia, 127 Min.
    zusammen mit Ulrich Rydzewski






    FESTIVALS / AUSZEICHNUNGEN

    2000
    2000














    „Hessischer Filmpreis“
    „Dokumentarfilm des Jahres“ :

    „Dabei entsteht ein Holocaust-Film besonderer Art, der ohne Bilder des Grauens auskommt und den Zuschauer gerade dadurch mit dem Leidensweg der Bedziner Juden konfrontiert.“ epd-film
    Aus der Begründung der Jury der Evangelischen Filmarbeit zur Auszeichnung als „Film des Monats“ November 2000:
    „Mit Überblendungen von Damals ins Heute und akustischen Untermalungen versuchen die Filmemacher zu Beginn, einen Eindruck davon zu vermitteln, wie die Normalität im kurzen Leben dieser Menschen ausgesehen haben mag. Von wenigen rhythmisierenden Außenaufnahmen abgesehen, verlässt sich der Film ganz auf die Kraft des gesprochenen Wortes. Er verweist damit auch den Zuschauer in die Erinnerungsräume seiner Protagonisten, deren Erzählungen einer optischen Unterfütterung bedürfen. Dabei entsteht ein Holocaust-Film besonderer Art, der ohne Bilder des Grauens auskommt und den Zuschauer gerade dadurch mit dem Leidensweg der Bedziner Juden konfrontiert. Die Erzählungen der Überlebenden bezeugen nicht nur die Auslöschung des jüdischen Lebens in der polnischen Kleinstadt nahe dem oberschlesischen Kohlerevier. Der Film handelt auch von den Mühen des Erinnerns und von dem schmerzhaften Versuch, Unfassbares in die eigene Biografie zu integrieren, mit den Erfahrungen und trotz der Erfahrungen der Vernichtung zu leben.“



    INTERVIEW

    Interview mit dem Regisseur
    Andrzej Klamt

    Andrzej Klamt, wie haben Sie die Protagonisten Ihres Films gefunden? Unter welchen Gesichtspunkten haben Sie sie ausgewählt?
    Marek Pelc, mit dem ich zusammen diesen Film gemacht habe, hatte im Rahmen eines Forschungsprojektes des Fritz-Bauer-Instituts mit einer Reihe von Holocaustüberlebenden gesprochen, auf die er durch eine Sammlung von Fotos aus dem Museum Auschwitz- Birkenau gestoßen war. Gemeinsam kamen wir auf die Idee, einige dieser Menschen im Film zu porträtieren, die alle aus der kleinen polnischen Stadt Bedzin am Rande des oberschlesischen Kohlereviers stammten. Mit diesen wenigen Überlebenden haben wir näheren Kontakt aufgenommen und schließlich daraus unsere Protagonisten gewählt. Die Mehrzahl von ihnen hatte dasselbe jüdische Gymnasium besucht, war dann ins Ghetto verbannt und schließlich nach Auschwitz deportiert worden. Alle leben jetzt in Tel Aviv. So haben wir uns also für diese Überlebenden der Shoah entschieden, weil sie einen gemeinsamen Lebens- und Erfahrungshintergrund haben.

    Haben Sie sich selbst ein fest umrissenes Konzept vorgegeben, nach dem Sie die Gespräche führten, oder gab es eine eher wenig vorstrukturierte, offene Gesprächssituation?
    Letzteres möchte ich sagen. Zwar wußten wir ja durch Mareks vorhergehende Recherchen, mit was für Schicksalen wir konfrontiert würden und was für uns besonders interessant wäre; wir hatten also eine ungefähre Vorstellung, in welche Richtung der Film gehen könnte. Aber als es dann zu den Dreharbeiten kam, versuchten wir, uns möglichst frei von Vorgaben zu fühlen und uns ganz auf die Menschen einzustellen, auf ihre Befindlichkeit und auf ihre Art, das Erlebte mitzuteilen. Um ein einigermaßen freies, offenes Gespräch möglich zu machen - was ja bei diesem Thema nicht gerade selbstverständlich ist - sind wir vom einfachen, chronologischen Erzählen der Biographie ausgegangen, von Kindheit, Elternhaus, Schule usw. Dadurch kommt, wie ich finde, nun im Film auch das persönliche Leben eines jeden sehr plastisch zum Ausdruck. Und es kommt viel Überraschendes zum Vorschein, mit dem wir vorher nicht rechnen konnten, tiefe Einblicke in die Schicksale.

    Sahen diese Menschen, als die Kamera lief, zum ersten Mal seit ihrer Jugend die Fotos, auf denen sie selbst oder ihre Familienangehörigen oder Freunde sind? Oder hatten ihnen die Bilder schon vorher vorgelegen?
    Sie kannten ja einige vom Forschungsprojekt her, als Menschen und Orte auf den Fotos identifiziert werden sollten. Aber wir brachten nun weitere mit. Bei Eli Broder zum Beispiel, der zusammen mit seiner Frau von uns interviewt wird, gibt es ungefähr 100 Fotos aus Familienalben. Die sieht er nun zum ersten Mal wieder- oder überhaupt zu ersten Mal - und ich denke, der Film vermittelt etwas von dem Unerwarteten dieser Begegnung mit der Vergangenheit.

    Es gibt ja die Zeichnungen von Ella Liebermann-Shiber, in denen sie unmittelbar nach der Befreiung 1945 ihre Erlebnisse in Bedzin, den Terror im Ghetto, den Transport und den Massenmord in Auschwitz festgehalten hat? Hat sich nicht angeboten, die in den Film zu integrieren?
    Wir wollten aus historischen und aus formalen, ästhetischen Gründen ganz bei den Fotos bleiben und so eine Geschlossenheit der Orte und Geschichten erreichen. Wir wollten kein Fremdmaterial in dem Film, auch nicht, um irgendeinen dramatischen Effekt zu erreichen. Also haben wir nur diese Fotos als Ausgangspunkt der Erzählungen genommen und uns weitgehend auf die Erzählenden selber verlassen.

    Haben Sie deshalb auch keine anderen Archivmaterialien, Filmausschnitte, Schreckensfotos aus den Ghettos und Konzentrationslagern verwendet?
    Ja, ich dachte, daß solches Fremdmaterial eher eine Abschwächung der Interview-Aussagen bedeuten würde. Das Berichtete sollte so stehenbleiben, gradlinig, direkt, privat und emotional. Ich sehe darin eine Stärke des Films, daß er sich auf diese intime Ebene begibt und daß die Leute so offen über ihre schlimmen Erfahrungen, ihre Wunden, reden. Der Zuschauer soll nicht Bilder in den Kopf bekommen, welche die Fantasie vom Erzählten ablenken und abschwächen.

    Es fällt auf, daß Sie in dem Film häufig Orte, Straßen oder Landschaften zeigen, ohne daß diese mit einer bestimmten Handlung verbunden wären. Diese Bilder stehen scheinbar ganz für sich, wie Zäsuren. Ist das für Sie primär ein rhythmisierendes Element oder verbinden Sie noch eine andere Absicht damit?
    Ich denke, daß man von den Orten, in denen man lebt, von der Landschaft, der Architektur usw., geprägt wird. Das meine ich jetzt nicht im soziologischen oder sozialpsychologischen Sinn, sondern ich meine, daß ein Erinnerungs-Raum geschaffen wird, eine Art Raum-Zeit-Uhr, an der man sich innerlich orientiert. Aus diesem Erinnerungs-Raum und in ihm leben die Protagonisten. Nehmen Sie den Sportplatz, das Unerhörte, Nicht-zu-fassende, das hier stattfand, die „Selektion“. Und nun sieht man hier Jugendliche bei ihren Wettkämpfen. Diese Gleichzeitigkeit im Nicht-Gleichzeitigen interessiert mich: Löst sie etwas beim Zuschauer aus, das über den vordergründigen Aha-Effekt - „Hier hat es also stattgefunden“ - hinausgeht? Oder ein anderes Beispiel: Wir sehen Bilder der Stadt Bedzin heute: Was sich damals hier abgespielt hat - hat das was mit heute zu tun? Ist das zu spüren? Sieht man das den Orten an oder verflüchtigt sich das? Gibt die Stadt zu erkennen, daß ihr etwas fehlt, daß etwas abgeschnitten ist, daß sie beraubt wurde?

    Bei einem Film, der sich auf ein solches Thema einläßt, hängt ja sehr viel davon ab, wie die Kamera auf die problematische Situation der Erzählenden reagiert. Wieviel Absprache gibt es vor den Aufnahmen zwischen Ihnen und dem Kameramann?
    Wir haben jeweils vor den Aufnahmen grob festgelegt, worauf es uns in der zu erwartenden Szene ankommt: Kamerastandpunkt, Stativ oder Handkamera, Licht, Charakter der Gesprächssituation. Dann aber vertraue ich ganz der Sensibilität des Kameramannes, seinem Können und seiner Liebe und Aufmerksamkeit für die Protagonisten. Er wählt seine Bewegungen, seine Nähe und Distanz, seinen Bildausschnitt. Er entscheidet aus dem Augenblick heraus, welcher Geste, welchem Blick, welchem Detail er Bedeutung gibt. Wir stehen ja nebeneinander, und wenn man einen guten Draht zueinander hat und sieht, was sich abspielt, dann teilt man sich auch ohne große Worte mit, worauf es in dem Moment ankommt.

    Sie haben die Eindrücke, die der Film im Zuschauer hinterläßt, auch durch eine besondere Tonebene unterstützt, die sich von herkömmlicher Musikuntermalung unterscheidet.
    Wir wollten auf jeden Fall vermeiden, daß so eine „Verlorene-Welt“-Stimmung aufkommt, die leicht entsteht, wenn z.B. Klezmermusik erklingt. Deshalb habe ich mit dem Komponisten Ulrich Rydzewski eine Toncollage aus Klängen und Geräuschen entwickelt, die etwas Fragendes, Unbestimmtes ausdrückt, das man nicht sofort orten und zuordnen kann, das aber eine möglichst große Aufmerksamkeit schafft. Diese Art Musik soll also nicht dramatisieren und eine Handlung vorantreiben, sondern hellhörig für das machen, was auf der Leinwand stattfindet. Sie soll zwar die Katastrophe immer wieder ahnen lassen, aber nicht plump sein, nicht eindeutig und tautologisch.

    Während Sie an dem Film arbeiteten, dachten Sie vielleicht auch hin und wieder an einen anderen Film, an dem wir ja nicht vorbeikommen, wenn wir uns mit diesem Thema beschäftigen: „Shoah“ von Claude Lanzmann. Was ging Ihnen da durch den Kopf? Fühlten Sie sich bestätigt? Sahen Sie sich im Widerspruch?
    Ich finde, alle diese Filme ergänzen sich, sind notwendige Bestandteile der großen Auseinandersetzung, die wir immer wieder führen müssen. Dabei operiert jeder Film anders, wirkt auf einer anderen Ebene. „Shoah“ hat die ganze Historie im Blick, ist ein großes politisches und psychologisches Panorama. Unser Film dagegen beschränkt sich, wie ich anfangs schon sagte, auf einen Ausschnitt. Er schildert eine kleine Gruppe von Menschen, versucht, wenige einzelne Schicksale zu vertiefen und so zu verbinden, daß bei aller Besonderheit doch ein exemplarisches Bild entsteht. Ausgelöst von den Fotos, wie von einem Funken, umkreist er die Erfahrungen und Gefühle, das Leid und die Hoffnung von gepeinigten Menschen. Wir sind hier auf einige der Überlebenden getroffen, sie sind uns nahegekommen, haben unsere Aufmerksamkeit und Anteilnahme gewonnen. Aber im Hintergrund erinnern uns die Fotos auch an die, die nicht mehr da sind. Wir sehen und hören den Lebenden zu, aber die Toten sind immer präsent. Dieses Eingedenken ist für mich das wichtigste an dem Film. (Das Gespräch führte Christian Ziewer im Juli 2ooo)

    TEXTE ZUM FILM

    Filmanfang

    Langsam fährt die Kamera, wie abtastend, über die Gesichter von Schülern auf einem Großfoto. Dazu ist die Stimme eines Mannes zu hören, der langsam und nachdenklich die Bilder kommentiert:
    Der lebt, das ist Lolek. Er überlebte dank seiner blauen Augen. Sie glaubten, daß er kein Jude ist ... Das ist Katz, er ist auch schon am zweiten Tag nach Auschwitz gegangen ... Das ist Preger ... Auschwitz ... Das ist Bolek Lewenstajn, einziger Überlebender seiner großen Familie ... Das ist Berkowicz. Er sah sehr weiblich aus. War aber trotzdem ein Mann. Sie haben ihn fertiggemacht ... Das bin ich. Und das ist Adolf Wosnica ... Auschwitz. Er ist nicht mehr da ... Ignatz
    Blum. Ein ganz kleiner, fast ein Zwerg.
    Er lebte noch ein paar Tage in Auschwitz, aber er ist gestorben ... Das sind die Jungen. Und das sind die Mädchen ... Das ist Dudka Lipszyk, sie lebt nicht. Das ist Renia Krakowska, lebt nicht ... Jetzt kommt zum ersten Mal das Gesicht des alten Mannes ins Bild, der vor dem Großfoto sitzt ... Das ist Pejsachson. Sie haben ihn beim Transport nach Auschwitz erschossen. Er spuckte einem Wachhabenden in die Fresse und sagte zu ihm der sonst polnisch sprechende Erzähler zitiert das folgende auf deutsch: „Du Verbrecher! Ihr werdet alle sterben wie die Hunde.“ Wieder auf polnisch Krach, Krach! Der Deutsche erschoß ihn, und er wurde aus dem Zug nach Auschwitz geworfen.



    Auf der Suche nach den Überlebenden

    Anmerkungen zur Identifizierung der 2400 Fotografien von Bedziner Juden aus der Sammlung des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau von Marek Pelc
    Als die 2400 Fotos aus den Beständen des Museums zum ersten Mal untersucht wurden, wußte man gerade genug, um die Spur auf der Suche nach der Identität der abgebildeten Menschen aufnehmen zu können. Nach und nach stellte sich heraus, daß die Fotografien beinah ausschließlich aus Bedzin stammten - einer ca. 50 000 Einwohner zählenden Stadt in der Dabrowskaer Kohlensenke (Zaglebie Dabrowskie) - ein Schwerindustrie- und Kohlengebiet im Vorkriegspolen, östlich von Kattowitz. Einige Personen konnten von ehemaligen Bedzinern, die in Israel leben, identifiziert werden.
    Beinahe die Hälfte der Fotografien waren auf ihren Rückseiten mit Beschriftungen, mit verschiedenen Numerierungen und Stempeln versehen. Manchmal waren es nur die Seriennummern der Fotografen, manchmal nur Datum und Orte verschiedener Ferienziele in der Umgebung Bedzins: Szcyrk, Krynika, Zakopane, Rabka oder Jelesnia.
    Mit einem Vergrößerungsglas konnte man die Inschriften, d.h. die abgebildeten Schriftbruchstücke im Bild - ein Ladenschild, ein Theaterplakat - entziffern. In nicht wenigen Fällen fungierten die Fotografien als Postkarten aus den bekannten Kurorten und wurden vermutlich von dem Straßenfotografen mit einer Aufschrift „Erinnerung aus ...“ versehen. Sehr viele der rund 1100 beschrifteten Fotografien trugen auf der Rückseite zusätzlich zum Datum und der Ortsangabe auch eine Widmung. Mal war sie eher eine Standardwidmung, wie sie auch ins Stammbuch geschrieben werden konnte, ein anderes Mal war sie gar ein Lied über Lilli Marlen auf polnisch: Das Herz schlägt stark und träumt von Liebe/ Ach meine Kleine sag nichts, weil ich Dich liebe/ meine Lilli Marlen.
    Manche Menschen besuchten regelmäßig dieselben Fotoateliers: So ließen sich Dina und Nachum Kohn jedes Jahr vor den immergleichen Fotohintergründen porträtieren und schrieben auf Jiddisch ihre Erlebnisse und Grüße nieder. Wenn sich die ganze Klasse des hebräischen Gymnasiums Fürstenberg in Bedzin zum Fotografieren aufstellte, signierten die Schüler sich gegenseitig schwungvoll ihre Abzüge.
    Die Rückseiten sind polnisch und hebräisch, jiddisch und russisch, deutsch, französisch und englisch beschriftet. Die Vielfalt der Sprachen spiegelt sowohl die verschiedenen Richtungen der jüdischen Auswanderung als auch die politischen Umwälzungen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts in Bedzin wider.
    Die überschaubare Größe Bedzins und seiner jüdischen Einwohner trug sicherlich dazu bei, dass die wenigen, die überlebten, sich an viele ihrer Mitschüler und Nachbarn erinnern konnten.
    Das jüdische Fürstenberg-Gymnasium nahm im sozialen Gefüge Bedzins eine Sonderposition ein: Hier trafen die Kinder der jüdischen Mittelschicht aus Bedzin und aus anderen Städten Zaglebies, oder auch gelegentlich aus der nahen Großstadt Kattowitz zusammen. Im geschützten Raum eines hebräischen Gymnasiums im Polen der 30er Jahre konnten sich weit intensivere Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern entwickeln, als das der Fall in vergleichbaren polnischen Schulen gewesen sein dürfte.
    Die Konfrontation mit den Fotografien löste unterschiedliche Reaktionen aus. Bei einer Zusammenkunft mit einigen Mitgliedern der Landsmannschaft Zaglebie in Tel Aviv, die ihr Domizil im Nebenraum der Synagoge auf der Frishman Straße hat, erzählte ein älterer Herr wie sein Freund anfing zu schreien, als er eine Fotografie seines ermordeten Bruders erblickte. Dieser ältere Herr war dabei selber sehr gerührt, weil er gerade das Foto seines Onkels im Ghetto identifizierte. Menschen, die ihre verstorbenen Eltern, die nie erlebten Großeltern, Tanten und Onkel auf den Fotos entdeckten, fingen in einigen Fällen mit eigenen Nachforschungen an. Die drei Jahre dauernde Erschließung der Fotosammlung aus den Beständen des Museums Auschwitz-Birkenau führte zu einigen neuen Initiativen: Demnächst erscheint ein Buch mit nacherzählten Geschichten über das hebräische Fürstenberg-Gymnasium. Am 8. November 2000 wurde eine ständige Ausstellung mit den Fotos der Sammlung auf dem Gelände des ehemaligen KZ Auschwitz eröffnet.

    Dicht daneben, direkt nebenan
    von Christian Ziewer

    In Feuilletons und auf Podien wurden die zivilen Schlachten um die furchtbare Sache geschlagen: Historikerstreit, Goldhagendiskussion, Walserrede, Wehrmachtsausstellung, Mahnmaldebatte. Theater und Literatur leisteten Kärrnerarbeit: Der Stellvertreter, Joel Brand, Kannibalen, Die Ermittlung, Klemperer, Reich-Ranitzki. Auch im Kino und im Fernsehen versuchte das Land zur Besinnung über seine Vergangenheit zu kommen: Majdanek-Prozeß, Hotel Terminus, Shoah, Jakob der Lügner, Holocaust, Das Leben ist schön, Schindlers Liste. Und immer wieder TV-Serien, 3. Reich-Endlosschleifen. Das Volk wurde informiert. Es ist doch alles nun gesagt. Was soll da noch VERZEIHUNG, ICH LEBE?
    Ich halte diese Frage für berechtigt. Nicht, weil die Menschheitskatastrophe nun oft genug beschrieben worden wäre, so daß fast alle schon fast alles wüßten - da halte ich es mit Brecht: Auch das tausendmal Gesagte noch einmal sagen, damit es nicht einmal zuwenig gesagt sei - sondern weil das Viel-Wissen stumpf gemacht hat. Die Leichenberge in „Mein Kampf“ und die Vergasungsanlagen in „Nacht und Nebel“ haben noch einen Schock ausgelöst und viele Menschen erschrecken lassen, und auch die „Holocaust“-Serie konnte noch eine Erregung hervorrufen, die, bei aller Kritik an der melodramatischen Action-Struktur, sicher auch produktiv war und das Nachdenken förderte. Jetzt aber hat die Inflation des Themas und die ständig sich wiederholende Machart der Produktionen dazu geführt, daß „Auschwitz“ nur noch eine abstrakte Metapher und eine klischeehafte, leere Formel geworden ist. „Ich kann das nicht mehr sehen“, meint nicht, der Schrecken sei zu groß und unaushaltbar, sondern nur noch: „Ich kann nichts mehr sehen, es sagt mir nichts mehr.“ Die Beschreibungen und Bilder der Massenverbrechen, die Wochenschauaufnahmen von SS-Paraden und Juden-Transporten, die Dokumente der Massaker und der Qualen sind verstummt. Leer und verschlissen lösen sie beim Betrachter keine Fragen und keine Antworten mehr aus.
    Andrzej Klamt hat VERZEIHUNG, ICH LEBE ohne die Bilder, die auf den TV-Schirmen immer wiederkehren, ohne die Wochenschauaufnahmen, ohne die gewohnten Kommentare und Mahnungen gemacht.
    Nicht einmal die historische, politische Situation der polnischen Stadt, von der sein Film berichtet, wird, außer in einem kurzen, schriftlichen Text, dargestellt. Klamt dramatisiert nicht, bietet keine „spannende“ Handlung, welche den Zuschauer mitreißt, illustriert nicht den Terror, dokumentiert nicht das Grauen. Er läßt nur - erzählen. Juden, Überlebende des Holocaust, schildern ihre Jugend, die unbeschwerten Jahre in dieser Kleinstadt, die, abgesehen vom hohen Anteil jüdischer Bürger, auch in Bayern oder Hessen hätte liegen können, den Überfall durch die Nazi-Armee und das folgende mörderische Schicksal der jüdischen Bevölkerung - oder richtiger gesagt: Die Überlebenden schildern ihre ganz persönliche Erfahrung mit der Katastrophe. Dieses Erzählen ist der eigentliche dramatische Vorgang des Films: Wie die Frauen und Männer dasitzen und sprechen, wie sie stocken und schweigen, wie sie sich bewegen, wie sie nachdenken und versuchen, sich zu erinnern, wie sie sich offenbaren. Das Sich-Erinnern von Menschen ist es, was dieser Dokumentarfilm vor allem andern dokumentiert.


    Franz Kafka, der in erschütternden Visionen die Schrecken des Jahrhunderts lange vorher beschwor, schrieb in einem Brief an Milena über seine Situation als Jude: „Nichts ist mir geschenkt, alles muß erworben werden, nicht nur die Gegenwart und Zukunft, auch noch die Vergangenheit.“ In Klamts Film können wir ansehen, wie Menschen sich abmühen, ihre Vergangenheit zu „erwerben“. Im Lächeln und in der Trauer auf ihren Gesichtern, in ihrer Einsamkeit, im Seufzen und Sich-Mut-Machen und in der Resignation ihrer Körper beim Sprechen wird ein ganz anderes historisches Drama erzählt als das von den Geschichtsforschern aufgeschriebene: das Drama der vielen, die ihrer Geschichte keinen Sinn geben können. Und eine andere Haltung, als die Aufgeregtheit und das Sentiment, die das Populärkino erzeugt, wird dem Zuschauer hier abverlangt: Er muss vor den Erzählungen der Protagonisten innehalten und, was er bisher zu wissen meinte, in Frage stellen. Er muß den Panzer öffnen, den die Medienindustrie mit ihren vorgefertigten Bildern vom Holocaust um ihn geschlossen hat. Und er muß schließlich sich eingestehen können, daß ihm der Zugang zu den Erfahrungen der Erzählenden versperrt ist, daß er ihren Weg in die Vergangenheit nicht mitmachen und nicht nachempfinden kann. Der Bruch zwischen der Realität der Vernichtungsfabriken und unserem beflissenen Interesse zu verstehen, ist unaufhebbar. Peter Weiss, der rechtzeitig mit seinen Eltern ins Exil gehen konnte, beschreibt diesen Bruch in seiner Erzählung über einen Besuch in Auschwitz: „Ein Lebender ist gekommen, und vor diesem Lebenden verschließt sich, was hier geschah.“
    Klamt will mit seinem Film nicht anhand von Daten und Fakten historisches Wissen vermehren. Vielmehr stellt er die Frage, wie man wissen soll, wie man wissen kann. Und durch die Art, wie er den Film angelegt hat, hilft er dem Zuschauer, eine Antwort zu finden: In langen, ruhigen Einstellungen verlangsamt er die Zeit (während der „Katastrophen-Film“ sie beschleunigt). So wird dem Zuschauer möglich, in sich selbst zu blicken - auf die Bilder, die der Film in ihm auslöst, wenn er ihn die Erzählenden beobachten läßt, wenn er ihn zuhören und die gezeigten Fotos betrachten läßt. Diese Privatfotos bilden neben den Interviews eine zweite Ebene des Films. So, wie Klamt sie verwendet, sollen sie nicht nur den Interviewten helfen, sich zu erinnern, sondern sie sind auch für den Zuschauer eine Brücke in die eigene Vergangenheit. Die Alltäglichkeit der Situationen, Familie, Schule, Ferien, Freundschaft und Flirt, ist dem Zuschauer als eigene vertraut und macht die Menschen auf den Fotos - wie auch die Überlebenden, die jetzt erzählend vor ihm sitzen - zu seinen Nachbarn: dicht neben ihm, direkt nebenan. So will der Film umkehren, was das Terrorregime diesen Menschen nebenan angetan hat, als es sie stigmatisierte, entrechtete und ausgrenzte, erst zu Fremden und dann zu Feinden machte. Indem der Film sich und damit den Zuschauer diesen Bildern des Friedens anvertraut, bringt er ihn in Bewegung. Er wird wahrhaft bewegend, anstatt nur anzurühren und aufzurütteln.
    Ein drittes Handlungselement des Films: Orte, Plätze, Landschaften, an denen die Interviewten einmal gelebt haben, in Bedzin, oder jetzt leben, in Tel Aviv. Wie Klamt durch seinen Kameramann diese Stationen fotografiert und wie er sie in den Film einschneidet, schafft er einen imaginären Raum, der, über die Funktion des Domizils hinaus, ein Raum für Assoziationen und Gefühle wird, der sich füllt mit der Gegenwart und Vergangenheit des Erzählenden und auch des Zuschauenden: dicht daneben, direkt nebenan. Und immer wieder auch, gegen diese Nähe, die unendliche Distanz zur Vergangenheit, die den Zuschauer vom Erzählenden trennt. Hilflos sieht er sich vor der Einsamkeit des Interviewten, vor der Einsamkeit des Exilierten - doch er fängt auch an, etwas zu begreifen: den Verlust von Leben. Und er beginnt, diesen Verlust mit seiner Kenntnis der historisch-politischen Ereignisse zu verbinden. Im Spiel mit den verschiedenen Materialien, in seinem Rhythmus, in seiner assozierenden Montage von Sprach- und Bildfragmenten, macht der Film den Zuschauer zum Teilnehmer, der doch ein Ganz-Anderer bleibt, ein Fremder vor diesen Schicksalen.
    Die langsame, melancholische Erzählweise, die uns einlädt, bei unsern eigenen Gedanken zu bleiben und nicht uns von einer sich überstürzenden Handlung forttragen zu lassen, bricht schockierend auf, wenn die Erzählung von der polnischen in die deutsche Sprache umkippt. Wenn die Interviewten ihre Peiniger in deren eigener Sprache zitieren, überfällt uns ein Schrecken, der die verbrauchten „Bilder des Grauens“ weit übersteigt.
    Wie da etwas mitgeteilt wird, sarkastisch und mit bitter lächelndem Abscheu, Fassungslosigkeit in Stimme und Mimik, was wir also als Gegenwärtiges auf der Leinwand sehen - anstatt der Historie, die abwesend nur „Wissen“ ist - das löst in uns den Schauder aus: „Wir brauchen Leute zur Arbeit, sonst hätte ich aus dir schon Seife gemacht“ und (zu einem, der zur Prügelstrafe nicht schnell genug die Kleider ablegt) „Runter mit dem Zeug!“ und (sachkundig der SS-Führer zu seinen Mordschützen, als einige Juden bei der „Selektion“ fliehen) „Was schießt ihr? Wo werden die wohl hinlaufen?“ Oder die scheinbare Beiläufigkeit, mit der die Interviewte von der Vergasungs-Ökonomie redet. Die vielen Wörter aus dem schrecklichen Alltag, die von den Überlebenden immer nur auf deutsch wiedergegeben werden können: Aussiedlung, Durchgangslager, Umschlagplatz, Rampe, Ordnungsdienst und immer wieder: „Jawohl!“ Den deutschen Zuschauer, der diese Sprache hört und weiß, daß es die Sprache des Todes war, muß sie erbeben lassen: Es ist die eigene! Und wenn dann die Verordnungen und Dienstanweisungen hinzukommen, die Urteile und Maßnahmen, die Betriebsanleitungen für den Völkermord, dann kann er nicht mehr verdrängen, daß da auch von seiner eigenen unmittelbaren Gegenwart die Rede ist. Diese Sprache der Bürokratie und der technischen Rationalität, in der die Menschenvernichtung in Teilschritte zerlegt wurde, die es dem einzelnen erlaubten, ohne Aufbegehren den geforderten Beitrag zu leisten, führt ins Heute. Sie erzählt unsere Vergangenheit in die Jetzt-Zeit hinein. Dicht daneben, direkt nebenan. Das ist unser „Filmerlebnis“.
    VERZEIHUNG, ICH LEBE scheint ein kleiner Film, beschränkt in Umfang und Horizont. Aber er öffnet einen Kosmos aus Vergangenheit und Gegenwart, der den Zuschauer herausfordert, weil er ihn mit sich selbst konfrontiert. Wir müssen den Gedanken ertragen, daß die Vergangenheit nie vergeht. Daß wir sie mit uns in die Zukunft nehmen.

    BEDZIN (dt. Bendsburg), polnische Stadt in der Woiwodschaft Katowice (Schlesien), bereits im Mittelalter gegründet. Die Geschichte der jüdischen Gemeinde reicht bis ins späte Mittelalter zurück. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann für Bedzin eine Phase schneller industrieller Entwicklung. 1931 zählte die jüdische Bevölkerung 21.625 Personen (45,5 Prozent der Gesamtbevölkerung), und vor dem Zweiten Weltkrieg war sie auf annähernd 27.000 angewachsen. Die deutsche Besatzung der Stadt am 4. September 1939 hatte unmittelbare Folgen für die jüdischen Einwohner. Am 9. September 1939 setzten die Deutschen die Hauptsynagoge und 50 anliegende Häuser in Brand, ohne die Einwohner vorher zu unterrichten; viele Juden kamen im Feuer ums Leben. Es wurden einige antijüdische Verordnungen erlassen, die die Beschlagnahme jüdischen Eigentums und die Beschränkungen der Bewegungsfreiheit für die Juden vorsahen. Schon in einer frühen Phase der Besetzung wurde ein Judenrat eingerichtet, unter der Leitung von lokalen jüdischen Honoratioren. Juden mußten sich für die Zwangsarbeit registrieren lassen. Einige wurden in Zwangsarbeiterlager nach Deutschland deportiert. Die Organisation dieser Deportationen wurde bald zur Aufgabe des Judenrats. Dieser mußte auch bei der Einrichtung von deutschen Werkstätten helfen, in denen Juden beschäftigt wurden - in der Annahme, Arbeit zum Nutzen der Deutschen könne die Juden der Stadt retten. Im Mai 1942 begann, getarnt als „Neuansiedlung“, die Deportation der Juden von Bedzin in das Vernichtungslager Auschwitz. Die Deportation erreichte ihren Höhepunkt am 12. August 1942, als sich alle Juden der Stadt an einem zentralen Ort einfinden mußten, angeblich um ihre Papiere abstempeln zu lassen. Es erfolgte eine „Selektion“, und 5000 Juden wurden in den Tod geschickt. Im Frühjahr 1943 wurden die Juden von Bedzin in ein Ghetto in Kamionka eingewiesen. Am 1. August 1943 begann die Auflösung des Ghettos. Die Operation dauerte über zwei Wochen, anschließend wurden die Überlebenden Juden nach Auschwitz deportiert. Nach dem Krieg kehrten einige Juden aus Bedzin in die Stadt zurück, aber die jüdische Gemeinde wurde nicht neu begründet.
    (Aus: Enzyklopädie des Holocaust.
    Hrsg.v. Israel Gutmann. Argon Verlag.)


    „Festessen und Sonderaktion“
    (Aus dem Tagebuchdes SS-Hauptsturmführers Prof. Dr. med. Kremer)

    30. August 1942
    Abfahrt Prag 8.15 über Böhmisch Trüben, Olmütz, Prerau, Oderberg. Ankunft im K.L. Auschwitz 17.36. Im Lager wegen zahlreicher Infektionskrankheiten (Fleckfieber, Malaria, Durchfälle) Quarantäne. Erhalte streng geheimen Instruktionsbefehl durch den Standortarzt Hauptsturmführer Uhlenbrock und werde im Haus der Waffen-SS in einem Hotelzimmer untergebracht.

    2. September 1942
    Zum 1. Male draußen um 3 Uhr früh bei einer Sonderaktion zugegen. Im Vergleich hierzu erscheint mir das Dantesche Inferno fast wie eine Komödie. Umsonst wird Auschwitz nicht das Lager der Vernichtung genannt!

    5. September 1942
    Heute mittag bei einer Sonderaktion aus dem F.K.L. (Muselmänner): das Schrecklichste der Schrecken. Hschf. Thilo, Truppenarzt, hat recht, wenn er mir heute sagte, wir befänden uns hier am anus mundi. Abends gegen 8 Uhr wieder bei einer Sonderaktion aus Holland. Wegen der dabei abfallenden Sonderverpflegung, bestehend aus einem Fünftelliter Schnaps, 5 Zigaretten, 100 g Wurst und Brot, drängen sich die Männer zu solchen Aktionen. Heute und morgen (Sonntag) Dienst.

    9. September 1942
    Heute früh erhalte ich von meinem Rechtsanwalt in Münster, Prof. Dr. Hallermann, die höchst erfreuliche Mitteilung, daß ich am 1.d.M. von meiner Frau geschieden bin. Ich sehe wieder Farben; ein schwarzer Vorhang ist von meinem Leben weggezogen! Später als Arzt bei der Ausführung der Prügelstrafe an 8 Häftlingen und bei einer Erschießung durch Kleinkaliber zugegen. Seifenflocken und zwei Stück Seife erhalten.

    20. September 1942
    Heute Sonntagnachmittag von 3-6 Uhr Konzert der Häftlingskapelle in herrlichen Sonnenschein angehört: Kapellmeister Dirigent der Warschauer Staatsoper. 80 Musiker. Mittags gabs Schweinebraten, abends gebackene Schleie.

    23. September 1942
    Heute Nacht bei der 6. und 7. Sonderaktion. Abends um 20 Uhr Abendessen mit Obergruppenführer Pohl im Führerheim, ein wahres Festessen.

    3. Oktober 1942
    Heute lebendfrisches Material von menschlicher Leber und Milz sowie vom Pankreas fixiert, dazu in absolutem Alkohol fixierte Läuse von Fleckfieberkranken. In Auschwitz liegen ganze Straßenzüge an Typhus darnieder. Habe mir deshalb heute früh die erste Serumspritze gegen Abdominaltyphus verabfolgen lassen. Obersturmführer Schwarz an Fleckfieber erkrankt.

    16. Oktober 1942
    Heute Mittag das 2. Paket mit 300,- RM Wert an Frau Wizemann zum Aufheben abgeschickt, Seife, Seifenflocken, Nährmittel. Im Lager einen syndaktylen Juden photographieren lassen. (Vater und Onkel dasselbe Leiden.)

    18. Oktober 1942
    Bei naßkaltem Wetter heute Sonntagmorgen bei der 11. Sonderaktion (Holländer) zugegen. Gräßliche Szenen bei drei Frauen, die ums nackte Leben flehen.

    24. Oktober 1942
    Sechs Frauen aus der Budger Revolte abgeimpft.

    25. Oktober 1942
    Heute, Sonntag, bei wunderschönem Herbstwetter Radtour über Roisko nach Budy.

    (Aus: Wir haben es gesehen. Zeugen sagen aus. Hrsg. Gerhard Schoenberner, Aufbau Verlag Berlin 1998)


    Die Verheimlicher und die Mitwisser

    (Fernschreiben des Reichssicherheitshauptamts an seine Diensstellen in den Haag, Paris, Brüssel und Metz vom 29. April 1943:)

    „Das Lager Auschwitz hat aus naheliegenden Gründen erneut darum gebeten, den zu evakuierenden Juden vor dem Abtransport in keiner Weise irgendwelche beunruhigenden Eröffnungen über die Art ihrer bevorstehenden Verwendung zu machen.
    Insbesondere bitte ich, durch laufende Belehrungen der Begleitkommandos bemüht zu sein, daß auch während der Fahrt den Juden gegenüber nicht irgendwelche besonderen Widerstand auslösende Andeutungen gemacht bzw. Vermutungen über die Art ihrer Unterbringung usw. ausgesprochen werden. Auschwitz muß mit Rücksicht auf die Durchführung dringendster Arbeitsvorhaben darauf Wert legen, die Übernahme der Transporte und ihre weitere Einteilung möglichst reibungslos durchführen zu können.“
    Aus der eidesstattlichen Erklärung des SS-Rottenführers Perry Broad beim Nürnberger Prozess

    „Ungefähr Ende 1942 wurde mit dem Bau von 4 großen Krematorien, die mit Gaskammern verbunden waren, in Birkenau begonnen. Die baulichen Anlagen der Gaskammern, die bei den Krematorien I und II unter der Erde lagen und mit Aufzügen zu den Verbrennungsräumen versehen waren, müssen den Zivilarbeitern über die tatsächliche Verwendung dieser Kammern Aufschluß gegeben haben. Außerdem war einer der provisorischen Gasbunker, der damals noch in Betrieb war, von der Baustelle der Krematorien IV und V aus zu sehen. Die Zivilarbeiter, die außerhalb des Lagerbereichs wohnten, mußten gesehen haben, wie aus einem der Bunker Leichen herausgezerrt und auf Loren verladen wurden, um dann auf offenen Brandstätten verbrannt zu werden. Es gab in der Umgebung von Birkenau etwa 10 große Brandstätten, wo 200-1000 Menschen jeweils auf Scheiterhaufen verbrannt wurden. Der Schein dieser Feuerstellen war mindestens in einem Umkreis von 30 km noch sichtbar. Ebenso weit war der unverkennbare Geruch von verbranntem Fleisch zu bemerken. Es müssen also alle Bewohner von Auschwitz und den umliegenden Ortschaften sowie alle in den Fabriken beschäftigten Leute, das Eisenbahnpersonal, die umliegenden Polizeistationen und Reisende auf der Linie Krakau-Kattowitz die Tatsache gewußt haben, daß in Auschwitz täglich eine große Masse Leichen verbrannt wurde.
    Die Transporte wurden von Begleitkommandos der Ordnungspolizei und von Eisenbahnbegleitpersonal der Reichsbahn bis zur Ausladerampe, die zwischen Auschwitz und Birkenau lag, gebracht. Gleich nach dem Ausladen begann die Aussonderung der für die Vergasung bestimmten Menschen. Die Züge standen meist noch einige Minuten leer an der Rampe, so daß die Eisenbahner und die Polizisten Gelegenheit hatten, diese Selektionen zu beobachten. Sie konnten weiterhin sehen, daß den Ankömmlingen ihr ganzes Hab und Gut abgenommen wurde, und konnten aus den Umständen entnehmen, daß sie ihre Sachen niemals wieder bekommen sollten.
    Die Eisenbahner blieben gerne längere Zeit an der Ausladerampe und täuschten selbst Maschinenschaden vor, um die von den Häftlingen zurückgelassenen Koffer zu bestehlen.
    Die als Telephonistinnen und Funkerinnen eingesetzten SS-Helferinnen haben von der Ankunft der Transporte und vom Inhalt sämtlicher Fernschreiben Kenntnis gehabt. Es ist selbstverständlich, daß sie im Laufe ihrer Tätigkeit den Sinn der Worte Aussiedlung, gesonderte Unterbringung und Sonderbehandlung erfahren haben. Selbstverständlich müssen die Bewohner von Auschwitz und die Zivilangestellten der umliegenden Fabriken von Krupp, IG., Deutsche Ausrüstungswerke und anderer deutscher Firmen, die Häftlinge benutzten, von allen Vorkommnissen im Lager, insbesondere von den Gasaktionen gehört haben.
    Die Volksdeutschen Mittelstellen und die Reichskasse, die die den Ermordeten abgenommenen Kleidungsstücke bzw. Wertsachen erhielten, müssen ebenfalls von diesen Aktionen gewußt haben. In diesen Dienststellen waren natürlich sehr viele deutsche Zivilisten beschäftigt, die ihrerseits diese Kenntnis verbreitet haben werden.“
    (Aus: Wir haben es gesehen. Zeugen sagen aus. Hrsg. Gerhard Schoenberner, Aufbau Verlag Berlin 1998)