Ein gefilmtes Tagebuch von Wim Wenders
ÑEingerahmt ist TOKYO-GA durch die Anfangs- und Schlußsequenz aus Ozus Meisterwerk von 1953: TOKYO MONOGATARI (REISE NACH TOKYO). Zu Beginn sieht man einfache, starre Bilder, die mosaikartig den normalen Alltag darlegen. Man sieht einen Turm vor einem Fluß; Kinder die zur Schule gehen; ein Dorf, durch das ein Zug fährt; ein Haus; eine alte Frau und einen alten Mann, die eine Reise vorbereiten; ihre Tochter, die das Haus verläßt, sie ist die Lehrerin des Dorfes; eine Nachbarin, die vorbeikommt und über die bevorstehende Reise plaudert; Schornsteine, die rauchen; und einen Bahnsteig, auf dem einige Frauen warten. Am Ende schließlich, die Reise ist vorbei, sieht man vieles noch einmal, nur um einige geringe Nuancen verschoben: die Schule; die Lehrerin, die ihre Schüler eine Arbeit schreiben läßt, dann auf die Uhr blickt und zum Fenster geht: den alten Mann, der nun allein ist, seine Frau ist gestorben; die Nachbarin, die wieder vorbeikommt und zu plaudern beginnt, über den Tod der Frau und die Einsamkeit; den alten Mann, der aus dem Fenster schaut, den Wind fächert und die Zeit verstreichen läßt; und dann noch den Fluß, auf dem zwei Schiffe dahinfahren.
Diese Bilder umrahmen Wenders Film wie eine Verheißung: Daß die Klarheit, Einfachheit und Schönheit in Ozus Kino Anfangs- und Endpunkt zugleich sind. Daß man darin ein Ausmaß von Leben findet, als gäben die Bilder das wirkliche Leben selbst wieder. Marvin Zeman über die ZenKunst von Ozu: 'Harmonie, Achtung, Reinheit, Armut - Harmonie von Farbe, Form, Licht, Berührung und Bewegung; Achtung vor dem Gast, vor sich selbst, vor der Natur; Reinheit der Seele, Reinheit des Raums, Reinheit der Welt; Armut des Menschen, Armut der Natur.'
Höhepunkte von TOKYO-GA sind die Begegnungen mit Ryo Chishu, der sein Leben lang Hauptrollen für Ozu spielte, und mit Atsuda Yushun, Ozus langjährigem Kameramann.
In diesen Sequenzen gewährt die Kamera, da sie in Respekt verharrt, einen tiefen Einblick in Ozus Welt. Die kleinen Gesten nebenbei, die Rührung in den Gesichtern, die Achtung vor dem Werk, die Reinheit der Freundschaft, die Ehrfurcht vor dem Meister: Etwas wird sichtbar, ohne daß viel darüber zu reden wäre. ...
Was ihm allerdings wieder gelingt, wie immer in seinen Filmen: den
Zeichen unserer Zeit nachzuspüren, die zugleich als Anzeichen
funktionieren. Da ist die Anzeigetafel auf einem Bahnhof, die die
Bewegung der U-Bahnen simuliert. Das Fernsehen, das John Wayne
japanisch reden läßt. Ein Auto, in dem, wo sonst der
Rückspiegel angebracht ist, ein kleines Fernsehgerät
flimmert. Und da ist auf Ozus Grabstein das Wort 'mu': das Nichts,
die Nichtsheit, die Leere. Noch einmal Marvin Zeman: 'Wenn man zum mu
vordringen kann, kann man die innere Erleuchtung erreichen. Diese
Schönheit kann überall gefunden werden - in einer einfachen
Blume, einer einsamen Wolke, einem kurzen Gedicht. ... Einige Leute
sehen sich Ozus Filme an und sehen nichts, während andere das mu
sehen, das, obwohl man es mit nichts übersetzen kann,
genaugenommen alles ist.'"
(Norbert Grob, ÑWenders" Edition Filme, Berlin 1991)
ÑIch habe den japanischen Regisseur Yasujiro Ozu in Amerika
kennengelernt. Nicht persönlich, der ist 1962 gestorben, aber
die Filme, die bis dahin ja eigentlich niemand kannte. In New York
hab' ich mehrere gesehen, die haben mich begeistert. Das war für
mich das, was das Kino in seiner idealsten Form hätte sein
können, so daß ich dann auch herumgereist bin, um andere
Filme zu sehen. Ich bin dann auch zum ersten Mal nach Tokio gefahren,
eigentlich nur, um andere Filme von Ozu zu sehen. Und das war dann
für mich viel mehr, als es das amerikanische Kino je gewesen
war, so eine Art Paradies des Kinos. Das war das, wozu das Kino
erfunden worden war und was es dann einmal in dem Werk von diesem
Mann tatsächlich sein sollte. Deswegen war das Werk idealisiert,
aber anders als das Amerika-Bild, das ein Traum von einer Lebensweise
war, mehr als alles andere. Während das Kino von Ozu wirklich
als Kino paradiesisch ist. Und ich wollte eben gern sehen, was aus
diesem Land und aus diesen Geschichten geworden war."
(aus einem Interview vom Mai 1992)
Im Basis-Film Verleih Berlin