Falsche Bewegung

Ein Spielfilm von Wim Wenders

ÑDie anfänglichen Hinweise auf den Raum, in den hinein das filmische Geschehen sich entwickelt, sind Introduktion und Spiel zugleich. Wie später PARIS, TEXAS beginnt auch FALSCHE BEWEGUNG mit einem Gottesblick auf eine weite Landschaft. Einem frei schwebenden Auge gleich fliegt die Kamera auf eine Stadt zu - über Wiesen und Felder, über eine Flußmündung und einen Hafen, schließlich über Häuser und Straßen. Die Kamera behält die Übersicht. Sie führt ein, wohin sie führt und worüber sie hinwegfliegt. Die Variation des filmischen Panoramas: eine Komposition aus gleitenden Totalen. Man erkennt sofort, in dieser Gegend, irgendwo in Holstein, blüht und gedeiht, was einer anpackt, Natur wie Wirtschaft.

In dieser Stadt lebt Wilhelm Meister. Er verkümmert hier, weil er nicht anpacken, sondern schreiben will. 'Ich möchte Schriftsteller werden', notiert er einmal in sein Tagebuch, 'aber wie ist das möglich, ohne Lust auf Menschen?' Seine Mutter möchte, daß er weggeht. 'Ich werde das Geschäft an den Supermarkt verkaufen und dir einen Teil der Kaufsumme mitgeben.'

Als sie jedoch am Bahnsteig sich von ihm verabschiedet, reicht sie ihm die Hausschlüssel statt der Fahrkarte. Ein Lapsus, der ihr Innerstes nach außen kehrt. Ihr letzter Ratschlag: 'Verlier' Dein Unbehaglichkeitsgefühl und Deinen Mißmut nicht! Die wirst Du brauchen, wenn Du schreiben willst.'...

Geradezu idealtypisch ist Wilhelm der romantische Wanderer mit seinem ambivalenten Schmerz, mit Fernweh und Heimweh zugleich: getrieben einerseits von seiner rastlosen Sehnsucht nach allem Fremden, nach neuen Erlebnissen, Eindrücken, Erfahrungen, andererseits aber beseelt von seinem Wunsch, endlich nach Hause zu kommen. Zu Hause wiederum ist es ihm zu klein, zu eng, zu miefig: während er sich draußen verloren fühlt, fremd und allein. Er will sich verausgaben für andere, um sich einzulassen auf sich selbst, andere spüren und kennenlernen, um sich selbst zu spüren und kennenzulernen. Aber er scheitert, immer wieder. Die einen verjagt er, die anderen verläßt er. ...

Das Abenteuer der Reise beginnt mit den Blutstropfen, die er auf der Bank vor ihm entdeckt. Dann mit Mignon, diesem jungen schönen Mädchen, das ihn unentwegt anstarrt, und dem Mundharmonikaspieler, der aus der Nase blutet. Wilhelm fühlt sich belästigt, zunächst. Doch der starre Blick des schönen Mädchens läßt ihn nicht los. Immer wieder schaut er sie an - gegen seinen Willen. Kann 'der Irrtum, nur durch das Irren geheilt werden?'

Als der alte Mann ihm danach erzählt, er blute jedes Jahr einmal, er blute wegen der Erinnerung an einen bestimmten Todestag, wie das Blut des heiligen Januarius einmal im Jahr flüssig werde und aufwalle, akzeptiert Wilhelm die beiden. Er bezahlt ihnen sogar die Fahrkarte. Woraufhin sich das Mädchen mit einem Kopfstand bedankt. Später sieht er eine Frau, die ihn 'sehnsüchtig macht,' und ein Mann gesellt sich zu ihm, der gerne ein Dichter wäre. Zu fünft reisen sie für eine Weile durch die Lande. Im Rheinland übernachten sie in einer provisorisch möblierten Villa. Deren Besitzer, er sprach am Abend von der Einsamkeit, finden sie am Morgen erhängt vor. Danach leben sie einige Tage in der Nähe von Frankfurt. Sie gehen spazieren, reden miteinander, fahren mit einer alten Fähre über den Main, sehen fern. Schließlich trennen sie sich, irgendwo 'im Getümmel'.

FALSCHE BEWEGUNG ist eine filmische Ich-Erzählung, formuliert mit objektiven Blicken. Man sollte auch den Blick auf Wilhelm, auf das ÑIch" der Geschichte, als Ich-Blick sehen. Wobei das nicht nur eine Konsequenz des inneren Monologs ist. Eher rührt das vom Zwang her, daß im Film alles, was vorkommt, mit dem Körper vorkommen muß. ...

Für diesen Wilhelm gibt es keine Blaue Blume, die er pflücken könnte. Fluchtartig zieht er sich schließlich von allen zurück. Hoch oben auf der Zugspitze, allein über den Wolken, entdeckt er für sich, daß nichts in ihm sich entwickelt hat. 'Es kam mir vor, als hätte ich etwas versäumt, und als versäumte ich immer noch etwas - mit jeder neuen Bewegung.'

Wenders Wilhelm wirkt letztlich wie der romantische Lehrling, der ausging, sein Königreich zu suchen, und nicht einmal seiner Mutter Eselinnen fand."

(Norbert Grob, ÑWenders" Edition Filme, Berlin 1991)

Im Basis-Film Verleih Berlin