Ein Spielfilm von Wim Wenders
ÑDer erste Blick geht hoch in den Himmel: auf ein Flugzeug, das durch die Wolken gleitet. Anders als später in PARIS, TEXAS, wo der Gottesblick aus den Wolken auf die Welt eine klare Ordnung behauptet, hat der Blick hier eine offene, staunende Qualität: Jedes Ordnen schließt ab, was es behandelt; das Staunen dagegen macht frei für neue Einsichten, neue Erfahrungen, neue Erkenntnisse.
Von den Wolken schwenkt die Kamera schließlich über die hohen Gebäude der Stadt runter auf den Strand. Auf einen Mann, der murmelnd singt: Under the Boardwalk Down by the Sea. ... Von oben nach unten zieht Wenders hier die Linie, vom Schweben über die Welt zu den Schwierigkeiten mit der Welt. Der Mann, den man da am Strand sieht, macht Fotos vom Meer und von den Dingen davor. Die Fotos unterscheiden sich jedoch von dem, was er sieht, immer wieder. Als er später an einer Tankstelle fotografiert, erkennt er: 'Es ist doch nie das darauf, was man gesehen hat.'
Ums Schauen, um die Abenteuer dabei und um die Komplikationen, wenn man es einfrieren und wiederholbar machen will, darum geht es immer wieder bei Wenders. In Alice dreht er seine Strategie eine Windung tiefer. Er zeigt, wie die bloße Wiedergabe in Unsinnigem erstarrt, wenn die Emotionen fehlen, die das Bild erst zur Vision formen. ...
Am Anfang steht eine Reise durch die USA, die der Mann allein macht, eingebunkert in einem Auto. Man sieht Straßen und Motels und all die Zivilisationszeichen innerhalb und außerhalb der Städte, all diese Schilder, Signale und Schriften, Verbote und Hinweise, Werbeplakate und Leuchtreklamen. Einmal kann man auf einem riesigen Wassertank die Aufschrift Surf City lesen. Gerade diese leuchtende und blinkende Zeichenwelt, dieses hellste Lichtermeer düsterster Banalität, ruft das Gefühl von Isoliertheit und Einsamkeit hervor, auch von Wehmut, Bestürzung und Trauer. Wenders forciert dies, indem er die Reise impressiv komponiert - mit kurzen Szenen, die er durch Auf- und Abblenden rhythmisiert.
Eigentlich will der Mann eine Geschichte schreiben. Aber er fotografiert nur unentwegt. Als er in New York ist, antwortet er dem Redakteur, der ihm vorwirft, er sollte keine Fotos machen, sondern eine Geschichte schreiben: Seine Geschichte handelt von Sachen, die man sehen könne, von Bildern und Zeichen. 'Wenn man durch Amerika fährt, passiert ja 'was mit einem - zwischen den Bildern, die man sieht. Und der Grund, warum ich so viele Fotos gemacht habe, das ist ein Teil der Geschichte.' Auf den engen Zusammenhang von Beobachten und Erzählen, darauf, daß einem etwas auffallen muß, bevor einem etwas einfallen kann - eine der zentralen Prinzipien des WendersKino überhaupt, ist hier ganz direkt verwiesen. ...
Als der Mann schon nach Deutschland zurückfliegen will, lernt er eine Frau und ihre kleine Tochter kennen. An der Drehtür des John-F.-Kennedy-Airport begegnet er dem Mädchen. Er will einfach nur spielen. Beide bringen sich gegenseitig in Schwung, drehen sich mehrfach rein und raus. Es ist schwierig, durchzusetzen, was man will, wenn der andere diesen Willen nicht respektiert. Eine neue Ebene entsteht, als er ihr Spiel aufnimmt. Wobei beide signalisieren, daß sie wissen: sie spielen. ...
Nachdem der Mann dem Kind und ihrer Mutter näher gekommen ist, und seine Freundin ihn ihrer Wohnung verwiesen hat, übernachtet er bei seinen neuen Freunden. ...
Am nächsten Morgen geht sie weg, früh am Morgen. Er beobachtet, wie sie geht, tut aber so, als schlafe er noch. Als sie das Zimmer verlassen hat, zieht er ihr Kissen zu sich, riecht daran und drückt es fest gegen sein Gesicht. Eine Geste, in der nicht allein die Sehnsucht nach einer Frau liegt, sondern auch die Sehnsucht nach einer intakten Empfindung für sich, nach einem Wohlgefühl mit sich selbst.
Später bittet ihn die Frau, ihre Tochter mitzunehmen nach Europa. Sie habe Angst, sonst nicht wegzukommen; sie werde einen Tag später fliegen. In Amsterdam warten der Mann und das Kind dann in einem trostlosen Flughafenhotel. Vergeblich. ...
Mit einem alten R4 fahren sie kreuz und quer durchs Ruhrgebiet - auf der Suche nach der Großmutter des Mädchens. Dafür haben sie nur das Foto eines Hauses, in dem sie vor Jahren mal gewohnt hat. Straße um Straße, Haus um Haus fahren sie ab. Wuppertal. Gelsenkirchen. Oberhausen. Der Mann, der bisher stets die Realität mit Fotos festhalten wollte, muß nun zu einem Foto die entsprechende Realität finden. Als die beiden es dann geschafft haben, kann er es zunächst gar nicht glauben. Er kann nicht fassen, daß neben der Wirklichkeit des Fotos noch eine andere: die authentische Wirklichkeit existiert. ..."
(Norbert Grob, ÑWenders" Edition Filme, Berlin 1991)
Im Basis-Film Verleih Berlin