?So tief ist keine Versenkung, daß alle Spuren
vernichtet werden könnten, nichts Menschliches
ist so vollkommen; dazu gibt es zu viele Menschen in der Welt, um Vergessen endgültig zu machen. Einer wird immer bleiben, um die Geschichte
zu erzählen.“ Hannah Arendt in: Eichmann in Jerusalem.

Filmanfang
Langsam fährt die Kamera, wie abtastend, über die Gesichter von Schülern auf einem Großfoto. Dazu ist die Stimme eines Mannes zu hören, der langsam und nachdenklich die Bilder kommentiert:
Der lebt, das ist Lolek. Er überlebte dank seiner blauen Augen. Sie glaubten, daß er kein Jude ist ... Das ist Katz, er ist auch schon am zweiten Tag nach Auschwitz gegangen ... Das ist Preger ... Auschwitz ... Das ist Bolek Lewenstajn, einziger Überlebender seiner großen Familie ... Das ist Berkowicz. Er sah sehr weiblich aus. War aber trotzdem ein Mann. Sie haben ihn fertiggemacht ... Das bin ich. Und das ist Adolf Wosnica ... Auschwitz. Er ist nicht mehr da ... Ignatz Blum. Ein ganz kleiner, fast ein Zwerg. Er lebte noch ein paar Tage in Auschwitz, aber er ist gestorben ... Das sind die Jungen. Und das sind die Mädchen ... Das ist Dudka Lipszyk, sie lebt nicht. Das ist Renia Krakowska, lebt nicht... Jetzt kommt zum ersten Mal das Gesicht des alten Mannes ins Bild, der vor dem Großfoto sitzt .. Das ist Pejsachson. Sie haben ihn beim Transport nach
Auschwitz erschossen. Er spuckte einem Wachhabenden in die Fresse und sagte zu ihm der sonst polnisch sprechende Erzähler zitiert das folgende auf deutsch: ?Du Verbrecher! Ihr werdet alle sterben wie die Hunde.“ Wieder auf polnisch Krach, Krach! Der Deutsche erschoß ihn, und
er wurde aus dem Zug nach
Auschwitz geworfen.

Inhalt:
In Auschwitz wurden nach 1945 2400 private Fotografien von Juden aus der polnischen Kleinstadt Bedzin am Rande des oberschlesischen Kohlereviers gefunden. Nur wenige der abgebildeten Menschen haben den Holocaust überlebt. Zu ihnen gehören die vier Protagonisten dieses Films. In ihren Erzählungen wird das Leben der Juden und ihrer polnischen Mitbürger in der Vorkriegszeit lebendig. Und es entwickelt sich daraus eine Geschichte des einbrechenden Nazi-Terrors, der Verfolgung und Auslöschung der gesamten jüdischen Bevölkerung dieser kleinen Stadt.
Konfrontiert mit den Fotos, auf denen sie als junge Menschen abgebildet sind, treten die Protagonisten eine bedrückende Reise in ihre Vergangenheit an: Die Frau, die als junges Mädchen durch improvisierten Unterricht den jüdischen Kindern ihre Selbstachtung wiedergeben will, nachdem die Schulen für sie verboten worden sind; der Widerstandskämpfer, der aus dem Ghettoversteck den Abtransport der Juden ins Vernichtungslager ansehen muß; der ehemalige Gymnasiast, dem in der Vorkriegszeit von seinen Eltern ein sorgloses, vergnügliches Leben bereitet wird; das Ehepaar, das rechtzeitig in die Sowjetunion fliehen kann und dort sofort in die Verbannung geschickt wird ...
Der Film illustriert die Schreckenstaten nicht, mit keinem Foto, keinem Zeitdokument, keiner Wochenschau. Er bleibt ganz bei den Protagonisten, sieht sie an den Orten, an denen sie heute leben, hört ihr Erzählen, zeigt die Mühen des Sich-Erinnerns. Und er zeigt auch ihre Scham über ihr Wegsehen, ihr Nicht-wahrhaben-wollen zu einer Zeit, als das Schlimmste für sie sich schon deutlich abzeichnete. So spricht dieser Film von sehr Persönlichem und wird gerade dadurch für den Zuschauer zur aufrüttelnden Reise in die Geschichte.

 

Stab:
Regie: Andrzej Klamt
Buch: Andrzej Klamt, Marek Pelc
Kamera: Vladimir Majdandzic
Schnitt: Zygmunt Dus, Ewa Dus
Musik: Ulrich Rydzewski
Ton: Alex Epstein, Bohdan Palowski
Tonmischung: Tom Blankenberg
Licht: Michael Weihrauch
Fachberatung: Hanno Loewy, Krystyna Oleksy,
Marek Pelc, Zygmunt Pluznik
Redaktion: Esther Schapira
Produktion: halbtotal filmproduktion
in Koproduktion mit dem Hessischen Rundfunk,
Appel Film Production, Ulrich Rydzewskis Filmproduktion,
Canal+ Polska, mit Unterstützung der Hessischen Filmförderung u. des Filmbüro NW. Mit freundlicher Unterstützung des Staatlichen Museums in Auschwitz-Birkenau und des Fritz-Bauer-Institutes.




Marek Pelc:
geb. 1953 in Wroclaw, Polen.
Emigrierte 1969 nach Israel. Armeedienst.
Studium der Geschichte und der Philosophie an der Hebräischen Universität in Jerusalem.
Studium der Germanistik an der J. W. Goethe-Universität in Frankfurt/M., tätig als Historiker.
1996-1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fritz Bauer Institut, Frankfurt/M.
Publizist und Literaturübersetzer (Hebräisch,
Polnisch, Deutsch).


Andrzej Klamt:
geb. 1964 in Bytom, Polen. Studium der Slawistik und der Filmwissenschaft in Frankfurt/M.
1989 Studienaufenthalt in der UdSSR.
Seit 1991 freier Filmautor und Regisseur mit Schwerpunkt Ost- u. Mitteleuropa.
Lebt und arbeitet in Wiesbaden und Düsseldorf.


Filmografie (Auswahl):
1991 Sibirien I,II, 45 Min.; TV-Dok. zus. mit H.P. Böffgen
1993 Zeichner des Gulag, 75 Min.; zus. mit H.P. Böffgen
1994 Sibirien III, 45 Min.
1995 Verbotene Zone, 45 Min., TV-Dok. zus. mit U. Rydzewski
1996 Der strahlende Sarg - 10 Jahre Tschernobyl, 45 Min, TV- Reportage zus. mit. U. Rydzewski
1998 Pelym, 115 Min, zus. mit U. Rydzewski
1999 Baku, ein Porträt in Öl, 52 Min., TV-Dokumentation



Verleihangaben:
Kinostart: Oktober 2000
Uraufführung: Internationales Forum des
Jungen Films, Berlinale 2000
Verleih gefördert durch das Filmbüro NW
Presseheft und Konzeption: Christian Ziewer
Satz und Layout: Studio Kraut
Internet: www.basisfilm.de
Pressebetreuung: Anke Hahn, Basis-Film Verleih

Deutschland/Polen 2000, 16mm, Farbe, 81 Min.

 



Auf der Suche nach den Überlebenden
Anmerkungen zur Identifizierung der 2400 Fotografien von Bedziner Juden aus der Sammlung des
Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau
von Marek Pelc

Als die 2400 Fotos aus den Beständen des Museums zum ersten Mal untersucht wurden, wußte man gerade genug, um die Spur auf der Suche nach der Identität der abgebildeten Menschen aufnehmen zu können. Nach und nach stellte sich heraus, daß die Fotografien beinah ausschließlich aus Bedzin stammten - einer ca. 50 000 Einwohner zählende Stadt in der Dabrowskaer Kohlensenke (Zaglebie Dabrowskie) - ein Schwerindustrie- und Kohlengebiet im Vorkriegspolen, östlich von Kattowitz. Einige Personen konnten von ehemaligen Bedzinern, die in Israel leben, identifiziert werden.

Beinahe die Hälfte der Fotografien waren auf ihren Rückseiten mit Beschriftungen, mit verschiedenen Numerierungen und Stempeln versehen. Manchmal waren es nur die Seriennummern der Fotografen, manchmal nur Datum und Orte verschiedener Ferienziele in der Umgebung Bedzins: Szcyrk, Krynika, Zakopane, Rabka oder Jelesnia.
Mit einem Vergrößerungsglas konnte man die Inschriften, d.h. die abgebildeten Schriftbruckstücke im Bild - ein Ladenschild, ein Theaterplakat - entziffern. In nicht wenigen Fällen fungierten die Fotografien als Postkarten aus den bekannten Kurorten und wurden vermutlich von dem Straßenfotografen mit einer Aufschrift ?Erinnerung aus ...“ versehen. Sehr viele der rund 1100 beschrifteten Fotografien trugen auf der Rückseite zusätzlich zum Datum und der Ortsangabe auch eine Widmung. Mal war sie eher eine Standardwidmung, wie sie auch ins Stammbuch geschrieben werden konnte, ein anderes Mal war sie gar ein Lied über Lilli Marlen auf polnisch: Das Herz schlägt stark und träumt von Liebe/ Ach meine Kleine sag nichts, weil ich Dich liebe/ meine Lilli Marlen.
Manche Menschen besuchten regelmäßig dieselben Fotoateliers: So ließen sich Dina und Nachum Kohn jedes Jahr vor den immergleichen Fotohintergründen porträtieren und schrieben auf Jiddisch ihre Erlebnisse und Grüße nieder. Wenn sich die ganze Klasse des hebräischen Gymnasiums Fürstenberg in Bedzin zum Fotografieren aufstellte, signierten die Schüler sich gegenseitig schwungvoll ihre Abzüge.
Die Rückseiten sind polnisch und hebräisch, jiddisch und russisch, deutsch, französisch und englisch beschriftet. Die Vielfalt der Sprachen spiegelt sowohl die verschiedenen Richtungen der jüdischen Auswanderung als auch die politischen Umwälzungen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts in Bedzin wider.

Die überschaubare Größe Bedzins und seiner jüdischen Einwohner trug sicherlich dazu bei, daß die wenigen, die überlebten, sich an viele ihrer Mitschüler und Nachbarn erinnern konnten.
Das jüdische Fürstenberg-Gymnasium nahm im sozialen Gefüge Bedzins eine Sonderposition ein: Hier trafen die Kinder der jüdischen Mittelschicht aus Bedzin und aus anderen Städten Zaglebies, oder auch gelegentlich aus der nahen Großstadt Kattowitz zusammen. Im geschützten Raum eines hebräischen Gymnasiums im Polen der 30er Jahre konnten sich weit intensivere Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern entwickeln, als das der Fall in vergleichbaren polnischen Schulen gewesen sein dürfte.

Die Konfrontation mit den Fotografien löste unterschiedliche Reaktionen aus. Bei einer Zusammenkunft mit einigen Mitgliedern der Landsmannschaft Zaglebie in Tel Aviv, die ihr Domizil im Nebenraum der Synagoge auf der Frishman Straße hat, erzählte ein älterer Herr wie sein Freund anfing zu schreien, als er eine Fotografie seines ermordeten Bruders erblickte. Dieser ältere Herr war dabei selber sehr gerührt, weil er gerade das Foto seines Onkels im Ghetto identifizierte. Menschen, die ihre verstorbenen Eltern, die nie erlebten Großeltern, Tanten und Onkel auf den Fotos entdeckten, fingen in einigen Fällen mit eigenen Nachforschungen an.

Die 3 Jahre dauernde Erschließung der Fotosammlung aus den Beständen des Museums Auschwitz-Birkenau führte zu einigen neuen Initiativen: Demnächst erscheint ein Buch mit nacherzählten Geschichten über das hebräische Fürstenberg-Gymnasium.
Am 8.November 2000 wird eine ständige Ausstellung mit den Fotos der Sammlung auf dem Gelände des ehemaligen KZ Auschwitz eröffnet.
Interview mit dem Regisseur
Andrzej Klamt

Andrzej Klamt, wie haben Sie die Protagonisten Ihres Films gefunden? Unter welchen Gesichtspunkten haben Sie sie ausgewählt?
Marek Pelc, mit dem zusammen ich diesen Film gemacht habe, hatte im Rahmen eines Forschungsprojektes des Fritz-Bauer-Instituts mit einer Reihe von Holocaustüberlebenden gesprochen, auf die er durch eine Sammlung von Fotos aus dem Museum Auschwitz- Birkenau gestoßen war. Gemeinsam kamen wir auf die Idee, einige dieser Menschen im Film zu porträtieren, die alle aus der kleinen polnischen Stadt Bedzin am Rande des oberschlesischen Kohlereviers stammten. Mit diesen wenigen Überlebenden haben wir näheren Kontakt aufgenommen und schließlich daraus unsere Protagonisten gewählt. Die Mehrzahl von ihnen hatte dasselbe jüdische Gymnasium besucht, war dann ins Ghetto verbannt und schließlich nach Auschwitz deportiert worden. Alle leben jetzt in Tel Aviv. So haben wir uns also für diese Überlebenden der Shoah entschieden, weil sie einen gemeinsamen Lebens- und Erfahrungshintergrund haben.

Haben Sie sich selbst ein fest umrissenes Konzept vorgegeben, nach dem Sie die Gespräche führten, oder gab es eine eher wenig vorstrukturierte, offene Gesprächssituation?
Letzteres möchte ich sagen. Zwar wußten wir ja durch Mareks vorhergehende Recherchen, mit was für Schicksalen wir konfrontiert würden und was für uns besonders interessant wäre; wir hatten also eine ungefähre Vorstellung, in welche Richtung der Film gehen könnte. Aber als es dann zu den Dreharbeiten kam, versuchten wir, uns möglichst frei von Vorgaben zu fühlen und uns ganz auf die Menschen einzustellen, auf ihre Befindlichkeit und auf ihre Art, das Erlebte mitzuteilen. Um ein einigermaßen freies, offenes Gespräch möglich zu machen - was ja bei diesem Thema nicht gerade selbstverständlich ist - sind wir vom einfachen, chronologischen Erzählen der Biographie ausgegangen, von Kindheit, Elternhaus, Schule usw. Dadurch kommt, wie ich finde, nun im Film auch das persönliche Leben eines jeden sehr plastisch zum Ausdruck. Und es kommt viel Überraschendes zum Vorschein, mit dem wir vorher nicht rechnen konnten, tiefe Einblicke in die Schicksale.
Sahen diese Menschen, als die Kamera lief, zum ersten Mal seit ihrer Jugend die Fotos, auf denen sie selbst oder ihre Familienangehörigen oder Freunde sind? Oder hatten ihnen die Bilder schon vorher vorgelegen?
Sie kannten ja einige vom Forschungsprojekt her, als Menschen und Orte auf den Fotos identifiziert werden sollten. Aber wir brachten nun weitere mit. Bei Eli Broder zum Beispiel, der zusammen mit seiner Frau von uns interviewt wird, gibt es ungefähr 1oo Fotos aus Familienalben. Die sieht er nun zum ersten Mal wieder- oder überhaupt zu ersten Mal - und ich denke, der Film vermittelt etwas von dem Unerwarteten dieser Begegnung mit der Vergangenheit.

Es gibt ja die Zeichnungen von Ella Liebermann-Shiber, in denen sie unmittelbar nach der Befreiung 1945 ihre Erlebnisse in Bedzin, den Terror im Ghetto, den Transport und den Massenmord in Auschwitz festgehalten hat? Hat sich nicht angeboten, die in den Film zu integrieren?
Wir wollten aus historischen und aus formalen, ästhetischen Gründen ganz bei den Fotos bleiben und so eine Geschlossenheit der Orte und Geschichten erreichen. Wir wollten kein Fremdmaterial in dem Film, auch nicht, um irgendeinen dramatischen Effekt zu erreichen. Also haben wir nur diese Fotos als Ausgangspunkt der Erzählungen genommen und uns weitgehend auf die Erzählenden selber verlassen.

Haben Sie deshalb auch keine anderen Archivmaterialien, Filmausschnitte, Schreckensfotos aus den Ghettos und Konzentrationslagern verwendet?
Ja, ich dachte, daß solches Fremdmaterial eher eine Abschwächung der Interview-Aussagen bedeuten würde. Das Berichtete sollte so stehenbleiben, gradlinig, direkt, privat und emotional. Ich sehe darin eine Stärke des Films, daß er sich auf diese intime Ebene begibt und daß die Leute so offen über ihre schlimmen Erfahrungen, ihre Wunden, reden. Der Zuschauer soll nicht Bilder in den Kopf bekommen, welche die Fantasie vom Erzählten ablenken und abschwächen.

Es fällt auf, daß Sie in dem Film häufig Orte, Straßen oder Landschaften zeigen, ohne daß diese mit einer bestimmten Handlung verbunden wären. Diese Bilder stehen scheinbar ganz für sich, wie Zäsuren. Ist das für Sie primär ein rhythmisierendes Element oder verbinden Sie noch eine andere Absicht damit?
Ich denke, daß man von den Orten, in denen man lebt, von der Landschaft, der Architektur usw., geprägt wird. Das meine ich jetzt nicht im soziologischen oder sozialpsychologischen Sinn, sondern ich meine, daß ein Erinnerungs-Raum geschaffen wird, eine Art Raum-Zeit-Uhr, an der man sich innerlich orientiert. Aus diesem Erinnerungs-Raum und in ihm leben die Protagonisten. Nehmen Sie den Sportplatz, das Unerhörte, Nicht-zu-fassende, das hier stattfand, die ?Selektion“. Und nun sieht man hier Jugendliche bei ihren Wettkämpfen. Diese Gleichzeitigkeit im Nicht-Gleichzeitigen interessiert mich: Löst sie etwas beim Zuschauer aus, das über den vordergründigen Aha-Effekt - ?Hier hat es also stattgefunden“ - hinausgeht? Oder ein anderes Beispiel: Wir sehen Bilder der Stadt Bedzin heute: Was sich damals hier abgespielt hat - hat das was mit heute zu tun? Ist das zu spüren? Sieht man das den Orten an oder verflüchtigt sich das? Gibt die Stadt zu erkennen, daß ihr etwas fehlt, daß etwas abgeschnitten ist, daß sie beraubt wurde?

Bei einem Film, der sich auf ein solches Thema einläßt, hängt ja sehr viel davon ab, wie die Kamera auf die problematische Situation der Erzählenden reagiert. Wieviel Absprache gibt es vor den Aufnahmen zwischen Ihnen und dem Kameramann?
Wir haben jeweils vor den Aufnahmen grob festgelegt, worauf es uns in der zu erwartenden Szene ankommt: Kamerastandpunkt, Stativ oder Handkamera, Licht, Charakter der Gesprächssituation. Dann aber vertraue ich ganz der Sensibilität des Kameramannes, seinem Können und seiner Liebe und Aufmerksamkeit für die Protagonisten. Er wählt seine Bewegungen, seine Nähe und Distanz, seinen Bildausschnitt. Er entscheidet aus dem Augenblick heraus, welcher Geste, welchem Blick, welchem Detail er Bedeutung gibt. Wir stehen ja nebeneinander, und wenn man einen guten Draht zueinander hat und sieht, was sich abspielt, dann teilt man sich auch ohne große Worte mit, worauf es in dem Moment ankommt.

Sie haben die Eindrücke, die der Film im Zuschauer hinterläßt, auch durch eine besondere Tonebene unterstützt, die sich von herkömmlicher Musikuntermalung unterscheidet.
Wir wollten auf jeden Fall vermeiden, daß so eine ?Verlorene-Welt“-Stimmung aufkommt, die leicht entsteht, wenn z.B. Klezmermusik erklingt. Deshalb habe ich mit dem Komponisten Ulrich Rydzewski eine Toncollage aus Klängen und Geräuschen entwickelt, die etwas Fragendes, Unbestimmtes ausdrückt, das man nicht sofort orten und zuordnen kann, das aber eine möglichst große Aufmerksamkeit schafft. Diese Art Musik soll also nicht dramatisieren und eine Handlung vorantreiben, sondern hellhörig für das machen, was auf der Leinwand stattfindet. Sie soll zwar die Katastrophe immer wieder ahnen lassen, aber nicht plump sein, nicht eindeutig und tautologisch.

Während Sie an dem Film arbeiteten, dachten Sie vielleicht auch hin und wieder an einen anderen Film, an dem wir ja nicht vorbeikommen, wenn wir uns mit diesem Thema beschäftigen: ?Shoah“ von Claude Lanzmann. Was ging Ihnen da durch den Kopf? Fühlten Sie sich bestätigt? Sahen Sie sich im Widerspruch?
Ich finde, alle diese Filme ergänzen sich, sind notwendige Bestandteile der großen Auseinandersetzung, die wir immer wieder führen müssen. Dabei operiert jeder Film anders, wirkt auf einer anderen Ebene. ?Shoah“ hat die ganze Historie im Blick, ist ein großes politisches und psychologisches Panorama. Unser Film dagegen beschränkt sich, wie ich anfangs schon sagte, auf einen Ausschnitt. Er schildert eine kleine Gruppe von Menschen, versucht, wenige einzelne Schicksale zu vertiefen und so zu verbinden, daß bei aller Besonderheit doch ein exemplarisches Bild entsteht. Ausgelöst von den Fotos, wie von einem Funken, umkreist er die Erfahrungen und Gefühle, das Leid und die Hoffnung von gepeinigten Menschen. Wir sind hier auf einige der Überlebenden getroffen, sie sind uns nahegekommen, haben unsere Aufmerksamkeit und Anteilnahme gewonnen. Aber im Hintergrund erinnern uns die Fotos auch an die, die nicht mehr da sind. Wir sehen und hören den Lebenden zu, aber die Toten sind immer präsent. Dieses Eingedenken ist für mich das wichtigste an dem Film.

Das Gespräch führte Christian Ziewer, Juli 2ooo
Dicht daneben, direkt nebenan
von Christian Ziewer

In Feuilletons und auf Podien wurden die zivilen Schlachten um die furchtbare Sache geschlagen: Historikerstreit, Goldhagendiskussion, Walserrede, Wehrmachtsausstellung, Mahnmaldebatte. Theater und Literatur leisteten Kärrnerarbeit: Der Stellvertreter, Joel Brand, Kannibalen, Die Ermittlung, Klemperer, Reich-Ranitzki. Auch im Kino und im Fernsehen versuchte das Land zur Besinnung über seine Vergangenheit zu kommen: Majdanek-Prozeß, Hotel Terminus, Shoah, Jakob der Lügner, Holocaust, Das Leben ist schön, Schindlers Liste. Und immer wieder TV-Serien, 3.Reich-Endlosschleifen. Das Volk wurde informiert. Es ist doch alles nun gesagt. Was soll da noch VERZEIHUNG, ICH LEBE?

Ich halte diese Frage für berechtigt. Nicht, weil die Menschheitskatastrophe nun oft genug beschrieben worden wäre, sodaß fast alle schon fast alles wüßten - da halte ich es mit Brecht: Auch das tausendmal Gesagte noch einmal sagen, damit es nicht einmal zuwenig gesagt sei - sondern weil das Viel-Wissen stumpf gemacht hat. Die Leichenberge in ?Mein Kampf“ und die Vergasungsanlagen in ?Nacht und Nebel“ haben noch einen Schock ausgelöst und viele Menschen erschrecken lassen, und auch die ?Holocaust“-Serie konnte noch eine Erregung hervorrufen, die, bei aller Kritik an der melodramatischen Action-Struktur, sicher auch produktiv war und das Nachdenken förderte. Jetzt aber hat die Inflation des Themas und die ständig sich wiederholende Machart der Produktionen dazu geführt, daß ?Auschwitz“ nur noch eine abstrakte Metapher und eine klischeehafte, leere Formel geworden ist. ?Ich kann das nicht mehr sehen“, meint nicht, der Schrecken sei zu groß und unaushaltbar, sondern nur noch: ?Ich kann nichts mehr sehen, es sagt mir nichts mehr.“ Die Beschreibungen und Bilder der Massenverbrechen, die Wochenschauaufnahmen von SS-Paraden und Juden-Transporten, die Dokumente der Massaker und der Qualen sind verstummt. Leer und verschlissen lösen sie beim Betrachter keine Fragen und keine Antworten mehr aus.

Andrzej Klamt hat VERZEIHUNG, ICH LEBE ohne die Bilder, die auf den TV-Schirmen immer wiederkehren, ohne die Wochenschauaufnahmen, ohne die gewohnten Kommentare und Mahnungen gemacht.
Nicht einmal die historische, politische Situation der polnischen Stadt, von der sein Film berichtet, wird, außer in einem kurzen, schriftlichen Text, dargestellt. Klamt dramatisiert nicht, bietet keine ?spannende“ Handlung, welche den Zuschauer mitreißt, illustriert nicht den Terror, dokumentiert nicht das Grauen. Er läßt nur - erzählen. Juden, Überlebende des Holocaust, schildern ihre Jugend, die unbeschwerten Jahre in dieser Kleinstadt, die, abgesehen vom hohen Anteil jüdischer Bürger, auch in Bayern oder Hessen hätte liegen können, den Überfall durch die Nazi-Armee und das folgende mörderische Schicksal der jüdischen Bevölkerung - oder richtiger gesagt: Die Überlebenden schildern ihre ganz persönliche Erfahrung mit der Katastrophe. Dieses Erzählen ist der eigentliche dramatische Vorgang des Films: Wie die Frauen und Männer dasitzen und sprechen, wie sie stocken und schweigen, wie sie sich bewegen, wie sie nachdenken und versuchen, sich zu erinnern, wie sie sich offenbaren. Das Sich-Erinnern von Menschen ist es, was dieser Dokumentarfilm vor allem andern dokumentiert.


Franz Kafka, der in erschütternden Visionen die Schrecken des Jahrhunderts lange vorher beschwor, schrieb in einem Brief an Milena über seine Situation als Jude: ?Nichts ist mir geschenkt, alles muß erworben werden, nicht nur die Gegenwart und Zukunft, auch noch die Vergangenheit.“ In Klamts Film können wir ansehen, wie Menschen sich abmühen, ihre Vergangenheit zu ?erwerben“. Im Lächeln und in der Trauer auf ihren Gesichtern, in ihrer Einsamkeit, im Seufzen und Sich-Mut-Machen und in der Resignation ihrer Körper beim Sprechen wird ein ganz anderes historisches Drama erzählt als das von den Geschichtsforschern aufgeschriebene: das Drama der vielen, die ihrer Geschichte keinen Sinn geben können. Und eine andere Haltung, als die Aufgeregtheit und das Sentiment, die das Populärkino erzeugt, wird dem Zuschauer hier abverlangt: Er muss vor den Erzählungen der Protagonisten innehalten und, was er bisher zu wissen meinte, in Frage stellen. Er muß den Panzer öffnen, den die Medienindustrie mit ihren vorgefertigten Bildern vom Holocaust um ihn geschlossen hat. Und er muß schließlich sich eingestehen können, daß ihm der Zugang zu den Erfahrungen der Erzählenden versperrt ist, daß er ihren Weg in die Vergangenheit nicht mitmachen und nicht nachempfinden kann. Der Bruch zwischen der Realität der Vernichtungsfabriken und unserem beflissenen Interesse zu verstehen, ist unaufhebbar. Peter Weiss, der rechtzeitig mit seinen Eltern ins Exil gehen konnte, beschreibt diesen Bruch in seiner Erzählung über einen Besuch in Auschwitz: ?Ein Lebender ist gekommen, und vor diesem Lebenden verschließt sich, was hier geschah.“

Klamt will mit seinem Film nicht anhand von Daten und Fakten historisches Wissen vermehren. Vielmehr stellt er die Frage, wie man wissen soll, wie man wissen kann. Und durch die Art, wie er den Film angelegt hat, hilft er dem Zuschauer, eine Antwort zu finden: In langen, ruhigen Einstellungen verlangsamt er die Zeit (während der ?Katastrophen-Film“ sie beschleunigt). So wird dem Zuschauer möglich, in sich selbst zu blicken - auf die Bilder, die der Film in ihm auslöst, wenn er ihn die Erzählenden beobachten läßt, wenn er ihn zuhören und die gezeigten Fotos betrachten läßt. Diese Privatfotos bilden neben den Interviews eine zweite Ebene des Films. So, wie Klamt sie verwendet, sollen sie nicht nur den Interviewten helfen, sich zu erinnern, sondern sie sind auch für den Zuschauer eine Brücke in die eigene Vergangenheit. Die Alltäglichkeit der Situationen, Familie, Schule, Ferien, Freundschaft und Flirt, ist dem Zuschauer als eigene vertraut und macht die Menschen auf den Fotos - wie auch die Überlebenden, die jetzt erzählend vor ihm sitzen - zu seinen Nachbarn: dicht neben ihm, direkt nebenan. So will der Film umkehren, was das Terrorregime diesen Menschen nebenan angetan hat, als es sie stigmatisierte, entrechtete und ausgrenzte, erst zu Fremden und dann zu Feinden machte. Indem der Film sich und damit den Zuschauer diesen Bildern des Friedens anvertraut, bringt er ihn in Bewegung. Er wird wahrhaft bewegend, anstatt nur anzurühren und aufzurütteln.

Ein drittes Handlungselement des Films: Orte, Plätze, Landschaften, an denen die Interviewten einmal gelebt haben, in Bedzin, oder jetzt leben, in Tel Aviv. Wie Klamt durch seinen Kameramann diese Stationen fotografiert und wie er sie in den Film einschneidet, schafft er einen imaginären Raum, der, über die Funktion des Domizils hinaus, ein Raum für Assoziationen und Gefühle wird, der sich füllt mit der Gegenwart und Vergangenheit des Erzählenden und auch des Zuschauenden: dicht daneben, direkt nebenan. Und immer wieder auch, gegen diese Nähe, die unendliche Distanz zur Vergangenheit, die den Zuschauer vom Erzählenden trennt. Hilflos sieht er sich vor der Einsamkeit des Interviewten, vor der Einsamkeit des Exilierten - doch er fängt auch an, etwas zu begreifen: den Verlust von Leben. Und er beginnt, diesen Verlust mit seiner Kenntnis der historisch-politischen Ereignisse zu verbinden. Im Spiel mit den verschiedenen Materialien, in seinem Rhythmus, in seiner assozierenden Montage von Sprach- und Bildfragmenten, macht der Film den Zuschauer zum Teilnehmer, der doch ein Ganz-Anderer bleibt, ein Fremder vor diesen Schicksalen.

Die langsame, melancholische Erzählweise, die uns einlädt, bei unsern eigenen Gedanken zu bleiben und nicht uns von einer sich überstürzenden Handlung forttragen zu lassen, bricht schockierend auf, wenn die Erzählung von der polnischen in die deutsche Sprache umkippt. Wenn die Interviewten ihre Peiniger in deren eigener Sprache zitieren, überfällt uns ein Schrecken, der die verbrauchten ?Bilder des Grauens“ weit übersteigt. Wie da etwas mitgeteilt wird, sarkastisch und mit bitter lächelndem Abscheu, Fassungslosigkeit in Stimme und Mimik, was wir also als Gegenwärtiges auf der Leinwand sehen - anstatt der Historie, die abwesend nur ?Wissen“ ist - das löst in uns den Schauder aus: ?Wir brauchen Leute zur Arbeit, sonst hätte ich aus dir schon Seife gemacht“ und (zu einem, der zur Prügelstrafe nicht schnell genug die Kleider ablegt) ?Runter mit dem Zeug!“ und (sachkundig der SS-Führer zu seinen Mordschützen, als einige Juden bei der ?Selektion“ fliehen) ?Was schießt ihr? Wo werden die wohl hinlaufen?“ Oder die scheinbare Beiläufigkeit, mit der die Interviewte von der Vergasungs-Ökonomie redet. Die vielen Wörter aus dem schrecklichen Alltag, die von den Überlebenden immer nur auf deutsch wiedergegeben werden können: Aussiedlung, Durchgangslager, Umschlagplatz, Rampe, Ordnungsdienst und immer wieder: ?Jawohl!“ Den deutschen Zuschauer, der diese Sprache hört und weiß, daß es die Sprache des Todes war, muß sie erbeben lassen: Es ist die eigene! Und wenn dann die Verordnungen und Dienstanweisungen hinzukommen, die Urteile und Maßnahmen, die Betriebsanleitungen für den Völkermord, dann kann er nicht mehr verdrängen, daß da auch von seiner eigenen unmittelbaren Gegenwart die Rede ist. Diese Sprache der Bürokratie und der technischen Rationalität, in der die Menschenvernichtung in Teilschritte zerlegt wurde, die es dem einzelnen erlaubten, ohne Aufbegehren den geforderten Beitrag zu leisten, führt ins Heute. Sie erzählt unsere Vergangenheit in die Jetzt-Zeit hinein. Dicht daneben, direkt nebenan. Das ist unser ?Filmerlebnis“.
VERZEIHUNG, ICH LEBE scheint ein kleiner Film, beschränkt in Umfang und Horizont. Aber er öffnet einen Kosmos aus Vergangenheit und Gegenwart, der den Zuschauer herausfordert, weil er ihn mit sich selbst konfrontiert. Wir müssen den Gedanken ertragen, daß die Vergangenheit nie vergeht. Daß wir sie mit uns in die Zukunft nehmen.
BEDZIN (dt. Bendsburg), polnische Stadt in der Woiwodschaft Katowice (Schlesien), bereits im Mittelalter gegründet. Die Geschichte der jüdischen Gemeinde reicht bis ins späte Mittelalter zurück. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann für Bedzin eine Phase schneller industrieller Entwicklung. 1931 zählte die jüdische Bevölkerung 21.625 Personen (45,5 Prozent der Gesamtbevölkerung), und vor dem Zweiten Weltkrieg war sie auf annähernd 27.000 angewachsen.
Die deutsche Besatzung der Stadt am 4. September 1939 hatte unmittelbare Folgen für die jüdischen Einwohner. Am 9. September 1939 setzten die Deutschen die Hauptsynagoge und 50 anliegende Häuser in Brand, ohne die Einwohner vorher zu unterrichten; viele Juden kamen im Feuer ums Leben. Es wurden einige antijüdische Verordnungen erlassen, die die Beschlagnahme jüdischen Eigentums und die Beschränkungen der Bewegungsfreiheit für die Juden vorsahen.
Schon in einer frühen Phase der Besetzung wurde ein Judenrat eingerichtet, unter der Leitung von lokalen jüdischen Honoratioren. Juden mußten sich für die Zwangsarbeit registrieren lassen. Einige wurden in Zwangsarbeiterlager nach Deutschland deportiert. Die Organisation dieser Deportationen wurde bald zur Aufgabe des Judenrats. Dieser mußte auch bei der Einrichtung von deutschen Werkstätten helfen, in denen Juden beschäftigt wurden - in der Annahme, Arbeit zum Nutzen der Deutschen könne die Juden der Stadt retten.
Im Mai 1942 begann, getarnt als ?Neuansiedlung“, die Deportation der Juden von Bedzin in das Vernichtungslager Auschwitz. Die Deportation erreichte ihren Höhepunkt am 12. August 1942, als sich alle Juden der Stadt an einem zentralen Ort einfinden mußten, angeblich um ihre Papiere abstempeln zu lassen. Es erfolgte eine ?Selektion“, und 5000 Juden wurden in den Tod geschickt.
Im Frühjahr 1943 wurden die Juden von Bedzin in ein Ghetto in Kamionka eingewiesen. Am 1. August 1943 begann die Auflösung des Ghettos. Die Operation dauerte über zwei Wochen, anschließend wurden die Überlebenden Juden nach Auschwitz deportiert.
Nach dem Krieg kehrten einige Juden aus Bedzin in die Stadt zurück, aber die jüdische Gemeinde wurde nicht neu begründet.

aus: Enzyklopädie des Holocaust.
Hrsg.v. Israel Gutmann. Argon Verlag.
Am Rande des Abgrunds

Ella Liebermann-Shiber, in Berlin geboren, mußte 1938 mit ihrer Familie Berlin verlassen und nach Bedzin, Polen, ziehen. Mit der deutschen Besatzung findet sich die Familie im Ghetto wieder. Im August 1943 wurde Bedzin für 'judenrein' erklärt. Ella Liebermann-Shiber wurde zusammen mit ihrer Familie nach Auschwitz-Birkenau geschickt.
Ihr Vater und ihre Geschwister wurden getötet. Ihr Leben und das ihrer Mutter wurden dank ihrer zeichnerischen Begabung gerettet. Die Deutschen beauftragten sie mit Porträtmalerei. Sie überlebte und wurde im Mai 1945 befreit. Unmittelbar nach der Befreiung begann Ella Liebermann-Shiber, die Geschehnisse durch ihre Zeichnungen zu dokumentieren.

?Jeder Tag bedeutet Verfolgung, jeden Tag ein anderes Versteck, immer den Tod vor Augen. In der Nacht vom 31. Juli zum 1. August 1943 wurden wir von Schüssen, Weinen und uns bekannten Schreien: 'Juden raus!' wach. Es gelang uns, in gebückter Haltung über den Hof zu rennen und unser Versteck zu erreichen: eine Art Grab unter einem Abfallhaufen. Dort saßen wir, gebeugt und mit angewinkelten Knien: mein Vater, meine Mutter, mein kleiner Bruder, meine alte Tante und ich. Nur so hatten alle Platz.
Wir hörten, wie die Juden zusammengetrieben und weggebracht wurden. Wir hörten die Schüsse und das Weinen der Kinder. Wir hörten das Schreien unserer Nachbarin, Frau Doktor Rechtschaft, ganz nah an dem Abfallhaufen. 'Mein Kind, mein Kind.' Schüsse und wieder Ruhe. Ich höre die kleine Luscha weinen, die 5jährige Tochter unserer Lehrerin, Frau Inwald.
Drei Tage und drei Nächte hatten wir nichts zu essen und zu trinken. Dann begann uns der Durst zu quälen. Plötzlich näherte sich jemand, und die Platte über uns wurde weggerückt. Der polnische Hausmeister riskierte sein Leben und rettete uns vor dem Hungertod. Er warf einen Brotlaib und eine Flasche Wasser hinunter in unser Grab. Wochenlang half er uns in der Not.
Einige Tage hören wir Schüsse und Schreie. Leichen werden auf den Abfallhaufen geworfen. Wir werden naß von dem Blut, das durch die Bretter und den Müll tropft. Später werden die Toten auf einen Lastwa