Kühe vom Nebel geschwängert

Dieser Film beruht auf Improvisationen mit dem Obdachlosentheater „Ratten 07“ (der Berliner Volksbühne). Die Darsteller kommen von der Strasse, einige haben Knasterfahrung, einige bezeichnen sich als Anarchisten, vielen fehlen die Zähne.
Alkohol, Drogen und Gewalt sind ihnen nicht unbekannt, aber alle sind ungeheuer liebenswert, wenn man sie näher kennenlernt. Das Theater ist ihre große Liebe und Leidenschaft. Rosa von Praunheim lud „Die Ratten“ auf ein Schloß in Mecklenburg ein, wo sie gemeinsam in einigen Wochen eine Geschichte entwickelten und verfilmten:
Es ist die Geschichte einer Therapeutin (gespielt von Uta Plate), die „nur Gutes will“, aber in ihrer bigotten Bürgerlichkeit die „Gescheiterten“ nur an die Gesellschaft anpassen will.
Die „Ratten“ beschließen, die Therapeutin als Geisel zu nehmen und das Schloß selbst zu verwalten. Doch ihr Versuch muss misslingen - bis ein wundersames Ende sie vor der wütenden Umgebung rettet. Rosa von Praunheim

Zur Entstehungsgeschichte des Films
von Rosa von Praunheim
„Ich lud meine Darsteller nach Mecklenburg auf Schloss Wrodow ein, um mit ihnen dort drei Wochen gemeinsam zu leben, zu wohnen und zu arbeiten.
Über Schloss und Dorf Wrodow hatte ich zwei Jahre zuvor einen preisgekrönten Dokumentarfilm gemacht, ‘Wunderbares Wrodow’ und kannte alle 65 Einwohner und die Schlossbesitzer, einen progressiven Jugendrichter und einen Maler.
Die Dorfbewohner versteckten sich sofort, als sie die wilden lauten Menschen grölend mit Bierflaschen in das Dorf ziehen sahen.
Ich hatte Angst, dass sie das Mobiliar zerstören werden. Ihre Hunde das Schloss vollpissen und es zum Schluss im Suff anstecken würden.
Nichts dergleichen geschah. Vor der Kamera waren die „Ratten“ voll konzentriert. Natürlich liebten sie es, wenn ich sie bat, im nahegelegenen Supermarkt Alkohol zu stehlen, natürlich nur für die Kamera. Zuerst war die Geschäftsleitung entzückt, als ich um Erlaubnis bat, da zu drehen, aber als sie die Darsteller sahen, wurde ihnen mulmig, und sie baten uns, den Firmennamen nicht zu nennen.
Eine andere Szene machte irren Spass: Der Schlossbesitzer hatte zu einem großen Filmball geladen und uns erlaubt, ohne das Wissen seiner Gäste, eine spontane Szene zu drehen, in der die „Ratten“ seine Gäste überfallen durften.
Einige Damen schrien und wollten ihre Perlenketten nicht abgeben. Natürlich wurde alles aufgeklärt.
Eine großartige Hilfe war der Bürgermeister des Dorfes Wrodow, der sich selbst im Film spielt. Klaus Schröder und seine Frau Moni.
Klaus ist auch Lehrer an einem Gymnasium und hatte eine tolle Begabung, die manchmal schwierigen „Ratten“ im Sturm zu gewinnen.
Er liebte es, eine Szene mit ihnen zu drehen, wo sie ihm heimlich Haschkekse andrehten und er dann in großen Kurven auf seinem Motorrad die Landstrasse rumrollerte. Leider fiel die Szene dem Schnitt zum Opfer.
Die „Ratten“ liebten die ländliche Idylle, tanzten, sangen und soffen Tag und Nacht und tollten mit ihren Hunden ums Schloss.
David suchte Psyllos in der Kuhscheisse, kleine Pilze, die rauschhafte Wirkung haben. Sie waren glücklich aus dem Grosstadtsumpf herauszukommen und ein schönes Dach über dem Kopf zu haben.
Neben den „Ratten“ spielten auch viele Dorfbewohner mit: Frau Müller, die 10 Kinder großgezogen hat und ihre 90jährige Mutter, der Gärtner Ambros und Herr Reinhard, der das Schloss wieder aufgebaut hat. Alte Leute mit viel Herz.
Hier spürten wir keine Ost-West Problematik. Wir hatten mit Menschen zu tun und nicht mit Politik. Wir drehten digital mit einer kleinen Kamera, so konnten wir schnell und spontan sein und Vieles einfangen, was sich gerade ereignete und in die Geschichte passte. Der Film war billig, eigentlich hatte ich von der Filmförderung in Mecklenburg und vom Filmboard Berlin-Brandenburg Geld bekommen, um ein Drehbuch zu schreiben.
Ich entschloss mich aber, das Geld zum Drehen zu verwenden, statt lange auf weitere Förderungen zu warten, und nachdem der Film fertig war, brauchte ich den Film nur abschreiben und hatte auch das Drehbuch.
Mit den „Ratten“ bin ich heute noch befreundet, ich liebe und verehre sie, weil sie ganz eigene Persönlichkeiten sind. Sie sind voller Stolz und dem Mut zu einem ganz anderen Leben, was viele von uns nicht verstehen können, weil wir vor lauter Anpassung nicht mehr aus den Augen sehen können.“ Rosa von Praunheim

Zur Geschichte des Obdachlosentheaters RATTEN 07 (Auszüge)
Das Obdachlosentheater RATTEN 07 und der „Verein Freunde der Ratten e.V.“ gründeten sich im Dezember 1992 nach der Inszenierung „Die Pest“ von Jeremy Weller aus Großbritannien an der „Berliner Volksbühne“. An der Produktion waren sowohl professionelle Schauspielerinnen als auch obdachlose Laien beteiligt. Diese Obdachlosen gründeten die Theatergruppe RATTEN 07, die beschloß, die begonnene Theaterarbeit fortzusetzen und damit selbst den Versuch zu starten, aus dem Nichts in die Öffentlichkeit zu treten.
Die RATTEN halfen 1994, die erste Obdachlosenzeitung Berlins, die HAZ, zu gründen, für die sie auch schrieben und die ihnen als weiteres Forum diente. Davon angeregt nahm der Herausgeber der französischen Obdachlosenzeitung „Le Reverbere“, George Mathis, Kontakt zu den RATTEN auf. Auf seine Einladung hin spielten die RATTEN in Paris eine Beckett-Adaption.
In Paris wurde nach dem Vorbild der RATTEN ein ähnliches Projekt gegründet. Ebenso in Finnland.
Das Obdachlosentheater kann in den vergangenen 8 Jahren unter dem Dach und mit Unterstützung der Volksbühne Berlin auf 18 erfolgreiche Inszenierungen zurückblicken, auf zahlreiche Lesungen eigener Gedichte und Texte, 4 Fotoausstellungen, sowie auf zahlreiche Gastspiele.
Ende 1995 erhielt das Obdachlosentheater RATTEN 07 den Kunstpreis Berlin 1995 für Darstellende Kunst durch die Akademie der Künste, Berlin.
Die Inszenierung „Leonce und Lena“ von Büchner hatte Ende 1995 Premiere und wurde im 3. Stock der Volksbühne bis 1996 insgesamt 44 mal gezeigt, sowie auf Gastspielen in Graz, in Stuttgart und Mainz. Im Januar 1997 hatte „Lumpazi Vagabundus“ von Johannes Nestroy (Regie: Gunter Seidler) Premiere. Auch diese Inszenierung spielten die RATTEN 07 außerhalb der Volksbühne auf Gastspielen in Graz (Österreich) und auf der Wilden Bühne in Stuttgart.
Im Mai 1997 hatte die Inszenierung „Bezahlt wird nicht“ von Dario Fo (Regie: Gunter Seidler) Premiere. Sie wurde 24 mal vor Berliner Publikum gespielt und war mit 2 Vorstellungen als Gastspiel in Köln. Die Premiere der 14. Inszenierung „Der Brotladen“ von Bertolt Brecht (Regie: Gunter Seidler) war am 10. Januar 1998 im
3. Stock der Volksbühne. ...
Zum Praterspektakel im Sommer 1998 hat die Inszenierung „Rainer Werner Fassbinder - Iphigenie auf Tauris von Johann Wolfgang von Goethe“ (Regie: Hendrik Mannes) Premiere.
Die Inszenierung HANDWERKERN (Leitung: Michael Laages und Gunter Seidler) mit Szenen aus dem Sommernachtstraum von William Shakespeare und aus dem Schimpfspiel „Herr Peter Squenz“ von Andreas Gryphius hatte ihre Premiere am 12. Februar 2000. Am 3. Juni 2000 war die Premiere der 19. Inszenierung „Die Sünde, die man nicht beim Namen nennen darf“ von Ricardo Bartis.
Seit 1992 spielen „Ratten 07“ an der Volksbühne Theater. Die 19. Inszenierung wurde nicht wie bisher in den Räumlichkeiten der Berliner Volksbühne gezeigt. Die „Ratten“ verließen die Volksbühne als Spielort. Sie verließen damit für diese Inszenierung den Rahmen, der für das Obdachlosentheater immer auch ein Stück Sicherheit bedeutete - im Positiven wie im Negativen. Sie suchen wieder stärker die Konfrontation mit dem Außen. Im S-Bahn-Bogen 91 in der Nähe des Alexanderplatzes, unter den Gleisen, neben fein renovierten Cafés und noch nicht geschlossenen Trödelläden fanden sie einen geeigneten Spielort. Die Inszenierung „Die Sünde, die man nicht beim Namen nennen darf“ und der hierzu ausgewählte Spielort brachte einen großen Erfolg für die Darsteller und das Team. Im Obdachlosentheater RATTEN 07 spielen zur Zeit 16 Darsteller.

rosa tagebuch vom 15.9.2002
Die Filmfestspiele in Venedig mit meiner Spieldoku „Kühe vom Nebel geschwängert“ waren ein riesiger Erfolg. Das Publikum jubelte von Herzen, und wir waren doch alle so nervös gewesen. Ich hatte fast alle Ratten-Schauspieler des Berliner Obdachlosentheaters mitgenommen und die wilden Jungs und Mädels stürmten mit lauten Schreien ins Kino. Schon am Tag hatten wir in der Stadt und in den vornehmen Filmhotels eine wilde Performance gemacht. Der Film wird Ende Oktober auf die Filmfestpiele nach Hof kommen und Anfang November in die Kinos kommen. Ich werde mit den Ratten eine Kino- und Theatertournee machen.

Pressestimme:
„Spiel und Wirklichkeit verschmelzen in diesen Augusttagen in dem kleinen Dorf Wrodow bei Neubrandenburg. Oder ist es wirklich, dass am hellen Nachmittag zwei splitternackte Männer aus dem Schloss stürzen, verfolgt von einem - bekleideten - Mann mit einer Mistgabel? Kameras verraten: Es ist ein Spiel. Der Berliner Regisseur Rosa von Praunheim dreht in Wrodow einen Film, den zweiten schon.
Während im vorigen Jahr die 65 Wrodower selbst im Mittelpunkt des Dokumentarstreifens „Wunderbares Wrodow“ standen, ist in diesem Jahr eine bunte Truppe angerückt. Sie machen einen Spielfilm, „Kühe vom Nebel geschwängert“. Einige der elf Darsteller sind ausgebildete Schauspieler, die meisten aber kommen aus dem Berliner Obdachlosentheater „Ratten 07“. Profis sind sie alle. (...) Dennoch spielen sie sich selbst.
In dem Film geht es darum, wie zehn „Sozialfälle“ eine Therapie in einem Dorf machen, berichtet von Praunheim. Therapeutin ist eine Schlossbesitzerin. Ein Alkoholiker arbeitet beim Gärtner, ein anderer macht ein Anti-Aggressionstraining beim Bürgermeister.
Den Gärtner spielt Wrodows Gärtner Ambros Wawrik. Den 69-Jährigen hat es wie viele Wrodower in den Kriegswirren aus der Ukraine hierher verschlagen.
Den Bürgermeister spielt der Bürgermeister und Lehrer Klaus Schröder.
Im Film hat er eine bildhübsche Tochter, den „kubanischen Fehltritt“ Madelei, berichtet Schauspielerin Mariam. Die Mutter musste nach der Wende zurück nach Kuba, die Tochter blieb hier. Sie verliebt sich in den Aggressiven. (...) Die Truppe will das Schloss in Selbstverwaltung führen. Doch einer verhilft der Frau zur Flucht, und die Problemfälle sind im Schloss gefangen. Befreit werden sie durch eine junge Frau, die durch magische Kräfte Ufos herbeiruft ...
Und damit ist die Komödie, die eine Persiflage auf die oft hilflosen Versuche von Therapien sein soll, schon wieder ganz nah an der Wirklichkeit von Wrodow. Seitdem das Schloss, das abgerissen werden sollte, 1993 von einem Berliner Jugendrichter und seiner Frau übernommen wurde, fand hier auch der Künstler Sylvester Antony ein Zuhause. Das Gerüst für das Drehbuch hat Praunheim geschrieben, die Dialoge sind größtenteils improvisiert.“
Nordkurier, 22.08.00
von dpa-Korrespondentin Birgit Voelsch


Regie Rosa von Praunheim
Produktionsltg. Martin Kruppe
Assistenz und Casting Ulrike Müller
Betreuung Moni Schröder
Kamera Alexandra Kordes (Spiel), Lorenz Haarmann, Rene Krumenacher (Doku)
Schnitt Mike Shephard
Ton Harald Fischer
Ausstattung Holger Syrbe
Musik Jürgen Kramlowsky

Darsteller des Berliner Obdachlosentheaters "Ratten 07" waren:
Abel vom Acker, Manfred Keil
David Zimmy, Dragan Vasic
Floria Teipen, Sven Hoffmann
Heinz Kreitzen, Thomas Porges

Und weitere Darsteller:
Uta Plate, Mariam Kurth
Natalia Bondar, Maria Wechselberger
Klaus Schröder, Ambros Wawrik
Herbert Reinhard, Frau Lipinsky

Produktion gefördert durch: Filmförderung Mecklenburg-
Vorpommern, Filmboard Berlin-Brandenburg GmbH.
Verleih gefördert durch: Filmboard Berlin-Brandenburg GmbH.

Wir danken Brigitte und Frank Bauer, Schloss Wrodow

Festivals
Uraufführung: New Territories,
Filmfestspiele Venedig 2002
Dt. Erstaufführung:
Internationale Hofer Filmtage 2002

Deutschland 2002, Format, DVD, Betacam SP, 86 Min.