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PIPERMINT - DAS LEBEN MÖGLICHERWEISE

Roadmovie um drei jugendliche Ausreißer auf "Familienurlaub"
Erfreut war der alte Mann, den sie im Dorf den Commissaire nennen, nicht, als die Bande, bestehend aus einem jungen Mädchen, einem jungen Mann und einem Kind, über seine friedliche Welt, in einer alten Villa auf dem Berg über den Klippen der kroatischen Insel Lastovo, hereinbrachen: "Sie nahmen Besitz von der ganzen Villa, wie es nur Jugendliche tun..." Und doch schwingt in seinen Worten, neben dem Unwillen über die Ruhestörung, auch ein wenig von der Wehmut des Abschieds mit, zusammen mit einer flüchtigen Ahnung von der Kostbarkeit lang vergangener Jugend: "Ich weiß nicht, ob alles so passiert ist, wie ich mich erinnere ... ob es Tage oder Wochen dauerte, auch ob es sie so oder so gab ...": Es liegt ein verträumter Klang in den Worten, un in der Stimme von Otto Sander, der sie in der deutschen Fasung für Sami Frey spricht. Der Mann ist Schriftsteller und dadurch prädestiniert fürs Geischichtenerzählen. Unter seinem Einfluss verlfüchtigt sich die Realität dieses Sommers aber auch ins Literarische, ähnlich wie vor kurzem die Liebesgeschichte des dänischen Films RECONSTRUCTION. Möglicherweise ist alles also nur erfunden, oder ein Traum.
So bleibt dieser Film auf magische Weise in der Schwebe, zwischen dem Tatsächlichen und dem Möglichen, zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt: Zoé Mint, die ein besonderes Faible für Flugzeuge, alte Pipers, hat und sich darum PiperMint nennt, sehnt sich nach einer richtigen Mutter, die nicht vorgeben will, ihre Schwester zu sein, nach einem einzigen Vater, nach einer festgefügten Familie statt der lockeren Kumpelei. Als ihr älterer Bruder Theo in den Süden fahren will, kommt sie kurzerhand mit, und da sie auf den siebenjährigen Artur, dessen Mutter verreist ist, aufpasst, kommt der eben auch mit. Als sie dann zu dritt im roten Cabrio sitzen, dauert es nicht mehr lange, bis sie sich streiten, über die Musik im Auto, über das Ziel der Reise, und da sind sie fast schon eine richtige Familie... "Sie wollte jemand anderes sein", sagt aus dem Off der Commissaire, den Sami Frey mit südlichem Timbre und lässiger Grandezza spielt. Die Sehnsucht nach Liebe und Familie liegt in der Luft wie ein schweres Parfüm, und während Theo Gangstergesten ausprobiert, kokettiert Zoé mit Familienritualen, und nennt doch ihr Trio im unverfänglichem Kinderjargon ihre "Bande". Sie spielt Familie und flirtet zugleich auch mit der Liebe, und so schleichen sich in das unbefangene Rangeln und Raufen unter den Geschwistern immer wieder erotische Doppeldeutigkeiten hinein, und die Blicke gehen unmerklich von der Zärtlichkeit für den Bruder über in die Verzückung von einem Geliebten.
Ein besonderer Zauber entsteht dabei, weil es Nicole-Nadine Deppé in ihrem Spielfilmdebüt gelingt, die Balance zu halten, ohne jemals ins zotig Eindeutige abzustürzen. Ihre zum Teil sehr jungen Schauspieler und Laien, den Teenager Luisa-Soi Kaiser und den siebenjährigen David Zohlen, verführt sie behutsam zu dieser Geschichte, bis sie eins mit ihr werden, etwa so, wie man sich auch im Urlaub langsam einlebt. Eine Sinfonie flüchtiger Blicke und zarter Berührungen erfüllt die mediterran anmutende Villa mit all ihren Treppen und Durchgängen: der leise Atem des Sommerwindes, das Rascheln der zarten durchsichtigen Vorhänge und der bunten Tücher, die wie Moskitonetze über dem Bett hängen, das Sirren der Zikaden und das Miauen der Katzen, das sich mit den feinen Klängen verbindet, die Meret Becker für den Film komponiert hat. So entstehen aus zufälligen Blicken und knisternden Berührungen Stimmungen, die sich stetig aufladen, nur um alsbald ruppig weggewischt zu werden. Zoé kämpft um den Zusammenhalt ihrer Bande, gegen alle Eindringlinge von außen, wie Sanja (Meret Becker), die die Aufmerksamkeit von Theo auf sich zieht, oder der Commissaire, der sich von Artur immer häufiger zum Spielen verleitenlässt. So sind mit dem Ende dieses Sommers nicht nur die Ferien zu Ende, sondern auch ein Lebensabschnitt, ist jene fragile Grenze endgültig überschritten, die die Kinder von den Erwachsenen trennt.         
Anke Sterneborg

Drei Ausreißer fahren in einem roten Auto von Luxemburg nach Kroatien und spielen im heißen Inselsommer Familie. Luftiges Sommer-Roadmovie, das auf magische Weise in der Schwebe zwischen kindlicher Fantasie und erwachsenem Geheimnis bleibt.
epd Film 8/2004

Pipermint ... das Leben, möglicherweise
"Unsere Hochzeit feiern wir in Apricot, wie Romy Schneider und nach einem Jahr bekommen wir ein Kind." Der Traum der 16-jährigen Zoé vom Eheglück geht noch weiter. Um die Sachen des Ehemannes soll sich ein Dienstmädchen kümmern. "Mit großem Busen und rundem Po", meint Theo, der Zoés Fantasie nicht ganz teilen mag. Die sexistische Anspielung findet Zoé wiederum nicht komisch. Doch bevor es zu einer Auseinandersetzung über die Frage kommt, ob da nun Humor oder Ironie im Spiel sei, zieht Theo "männliche Dienstmädchen" als die bessere Alternative in Betracht: "Butler sind sowieso cooler!", sagt er, um den Streit im Keim zu ersticken. Es weht eine leichte Sommerbrise durch die kroatische Villa, dem Feriendomizil des pubertierenden Geschwisterpaares, und wenn Zoé laut träumend und Theo Zigaretten rauchend auf geblümter Bettwäsche liegen, leuchtet alles in Pastell.
Zoé, Theo und der sechsjährige Artur haben sich für einige Tage abgesetzt. Der treibende Motor des Trips ans Mittelmeer ist Zoé. Das wird am Anfang kurz angedeutet und spielt bei den Konflikten des Geschwisterpaares immer wieder als Traum von der Familien-Bande eine Rolle. Während Zoé ihren großen Bruder mit der Frage "Wir sind doch eine Bande, wir bleiben doch immer zusammen?" nervt, hat dieser sich längst in eine mysteriöse Inselschönheit verguckt. Man muss sich dem Fluss der Bilder und ihrer Poesie hingeben und "Pipermint" genießen. Meret Beckers singende Säge hat schon manchem das Herz gebrochen; zu Nicole-Nadine Deppés Spielfilmdebüt hat das schauspielernde Multitalent die Musik komponiert - und es könnte glatt wieder pasieren. Zu dem spielt Meret die geheimnisvolle Inselbewohnerin. Die heißt nicht Sonja, sondern Sanja und spricht auch so. Mit romantischem Look und fantastischem Akzent erobert sie Theos Herz im Nu und bringt das geschwisterliche Pas de deux aus dem Gleichgewicht.
"Pipermint" ist ein frisches Coming-of-Age Drama, das vom Kontrast zwischen der Natürlichkeit seiner überwiegend jungen Darsteller und der exotischen Künstlichkeit der Inselbewohner profitiert. Beispielsweise mit Meret Beckers Kaugummiblasen produzierendem Vamp-Ersatz. Marek Harloff hat sich spätestens seit "Vergiss Amerika" (fd 34 546) einen Namen gemacht und gibt hier als fürsorglicher Bruder genauso wie als Testosteron gebeutelter Jüngling eine gelungene Vorstellung, mal fürsorglich, mal verletzlich, mal zornig. Luisa-Soi Kaiser als Zoé wirkt erdig und auf der Suche nach einem Familienhalt zielstrebig und unschuldig zugleich. Zwischen Marek Harloff und ihr stimmt die Chemie beim geschwisterlichen Streit wie bei den Gesprächen über die Liebe. Den ruhenden Pohl des Films bildet Sami Frey als "Katzendompteur" Mendel, der sich (in der Rahmengeschichte als Erzähler mit der deutsche Off-Stimme Otto Sanders) an die Zeit mit den Dreien erinnert. Wie lange die "Familien-Bande" in seiner Villa gewohnt habe, könne er nicht mehr genau sagen. Aber Zoé beschreibt er als starke Persönlichkeit, die sich Bevormundungen widersetzt und bis zum Schluss versucht, selbst die Fäden ihrer Familienbande in der hand zu behalten. Das kokette Spiel der Geschwister als Liebes- oder Ehepaar macht auch Mendel zum Thema.
Immer wieder zeigt die Kamera Details, Hände, die nervöse Zigaretten halten, über Haut gleiten oder Falten auf einem Kleit glatt streichen. Es sind solche kleinen Gesten, die, gezielt eingefangen, erotische Gefühle ins Spiel bringen. Zudem bereichert die Regisseurin ihren Film mit fantasievollen Ideen. So backt Zoé Pizza in Herz- und Sternform, während Artur Mendel mit einer kuriosen Erfindung beeindruckt, den Schwimmflossen-Rollschuhen. Mit Arturs Part als Freund des "Katzendompteurs" wahrt "Pipermint" die Verbindung zur Realität.
Nicole-Nadine Deppé, Absolventin der dffb, hat neben ihrem Filmstudium Geschichte und Politikwissenschaft studiert. Ein gewisses Maß an Lebenserfahrung hat die in Saudi-Arabien, Lybien, Sudan und Kenia aufgewachsene Regiedebütantin offenbar auch in sozialen Tätigkeiten erworben. In ihrem Statement zum Film heißt es: "Mich interessiert die Psychologie der einzelnen Protagonisten, deren Geheimnis und ihre uneingestandene und damit tragische Sehnsucht zueinander. "Pipermint" ist keine Geschichte über Inzest. Es ist die Geschichte über die Selbstverständlichkeit einer Geschwisterliebe. Alle leben sie in ihrer eigenen Realität und doch kann sich keiner ungeschoren auf Dauer in die eigene Welt verziehen." Mit überschießender Fantasie entwickelt sie ein flirrendes Sommerabenteuer. Zoé bricht es dabei nur deshalb nicht das Herz, weil sie, wie in der Geschichte von den fliegenden Fischen, die sie Artur einmal erzählt, am Ende fliegend abhebt. Mit ruhigem, aber stetig vorwärtstreibendem Erzählrhythmus mischt Nicole-Nadine Deppé unbeschwerte Urlaubsstimmung mit spannungsgeladenen Streitereien, und trotz tragischer Gefühle überträgt sich das Helle des Mittelmeerklimas auf das Ende des Films.
filmdienst 15/2004

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