Blockade
Ein Film von Thomas Kufus
Stab:
Buch und Regie: Thomas Kufus
Kamera: Johann Feindt
Schnitt: Christoph Janetzko
Musik: Arpad Bondy
Ton: Alexander Grusdew
Beratung: Gennadi Kagan
Archivrecherche: Marina Nikiforowa
Aufnahmeleitung: Alla Ponomariowa
Herstellung: Martin Hagemann
Produktion zero film Berlin in Zusammenarbeit mit Studio Lendoc Leningrad
BRD 1991, s/w und Farbe, 16mm, 93 Min
Inhalt
Leningrad 1941. Der Tod war normaler als das Leben. 1941 überfiel die Deutsche Wehrmacht die Sowjetunion. Hitler gab den Befehl, Leningrad " dem Erdboden gleichzumachen" .Die Wehrmacht schloß einen Belagerungsring um die Stadt, doch Leningrad konnte verteidigt werden. 900 Tage lang, von September 1941 bis Januar 1944, waren die Bewohner der Stadt eingekesselt. Über eine Million Menschen starben an Hunger und Kälte. 50 Jahre später, im Winter 1991: in der von Peter dem Großen prachtvoll angelegten Stadt sind die Straßen aufgerissen, die Häuserfassaden verfallen, die Sprünge im Fensterglas mit Papierstreifen abgeklebt. Zeitzeugen der Blockade berichten von damals: vom Überlebenswillen bei Temperaturen bis zu minus 40 Grad, ohne Elektrizität, Heizung und Wasser, mit einer täglichen Brotration von 125 Gramm pro Person. Stumm kommentieren historische Filmaufnahmen die Erzählungen der Überlebenden. Diese Bilder von der hoffnungslosen Lage in der Stadt während der Blockade stammen aus russischen Archiven, waren jahrelang zensiert und bisher nie veröffentlicht. Die Blockade von Leningrad war bis heute ein Tabu auf beiden Seiten. Während im Westen niemand an dieses Kriegsverbrechen der Wehrmacht erinnern wollte, wurde in der Sowjetunion und auch in der DDR die militärische Verteidigung der Stadt zum Heldentum verklärt, das Leiden der Zivilbevölkerung aber verschwiegen. Blockade schildert die Zeit der Belagerung aus der Sicht der Bewohner Leningrads. Nüchtern wird der von Deutschen geplante Massenmord durch Aushungerung dargestellt. Daneben lassen die persönlichen Erinnerungen der Überlebenden einen Eindruck vom Ausmaß der Verzweiflung entstehen, davon, was Menschen Menschen antun können, und wozu Menschen bereit sind, um zu überleben.
25.12.1941
"In der letzten Zeit fielen sehr viele Bomben auf die Stadt. Manche Leute kochen Suppe aus Tischlerleim. Dem Leim fügt man Lorbeerblätter oder andere Kräuter hinzu.Tischlerleim kann man nicht kaufen, und wenn, gibt es sehr lange Schangen. Gestern aß Kolja Sülze aus dem Hund Nona. Er mußte viel Senf und Essig hinzutun. Aber es schmeckte nicht gut. Der bloße Gedanke, daß man einen Hund ißt, war sehr unangenehm. Heute reden alle nur vom Essen und wo man was zu essen kriegen könnte."
5.1.1942
"Seit dem 1.Januar bekommt niemand mehr Zeitungen. Das Radio schweigt, und deswegen wissen wir nichts vom Gang des Krieges, außer zufälligen Neuigkeiten. Unsere Truppen sind schon in Malojaroslawez. Die Deutschen setzen ihren Angriff auf Leningrad fort. Heute ist die Stadt vollkommen gelähmt. Busse, Trolleybusse, Straßenbahnen fahren schon lange nicht mehr. Die Beleuchtung, die Wasserleitung, nichts funktioniert mehr. In verschiedenen Institutionen flimmert nur ein kleines Licht. Die Kinos sind geschlossen. Und an den Friseursalons und Kinos hängt eine Bekanntmachung: "Geschlossen, keine Elektrizität". Durch die Stadt gehen alle mit Eimern und suchen Wasser. Bereits der dritte Tag, an dem es kein Brot gibt. Man sagt, wegen Wassermangel."
aus: Blockade-Tagebuch von Georgi Zim. Zim begann seine Aufzeichnungen am 13.7.1941, die letzte Eintragung stammt vom 10.2.1942. Er starb nach der Evakuierung über den Ladogasee an den Folgen des Hungers. Das Tagebuch wurde bei der Recherche zum Film entdeckt und wird erstmals im Februar 1992 in Deutschland veröffentlicht werden. "Die Kälte erfüllte uns inwendig, sie drang durch Mark und Bein. Der Körper erzeugte kaum Wärme. Die Kälte war schlimmer als der Hunger. Sie machte die Leute gereizt. Als ob dich jemand von innen abkitzelt. Dieses Kitzelgefühl erfaßte den ganzen Körper und zwang einen, sich von einer Seite auf die andere zu wälzen. Die Gedanken kreisten nur ums Essen.
...Das menschliche Hirn starb zuletzt. Wenn Arme und Beine schon längst den Dienst versagt hatten, wenn die Finger den Mantel nicht mehr zuknöpfen konnten, wenn der Mensch keine Kraft mehr hatte, um den Mund zu schließen, die Haut dunkel wurde, wenn das Gesicht wie ein Totenschädel mit grinsenden Zähnen aussah -dann arbeitete das Gehirn weiter...."
aus: "Wie wir am Leben blieben" von Dimitri Lichatschow. Der Literaturwissenschaftler und Kulturhistoriker schrieb diesen Text zusammen mit seiner Frau 1957 als Erinnerung für seine Töchter, die die Blockade als Kinder erlebten. "Wie wir am Leben blieben" wurde 1991 ermals in der Sowjetunion veröffentlicht.
zitiert nach: "Blockade.Leningrad 1941-1944. Dokumente und Essays von Russen und Deutschen."
Hrsg.: Anje Leetz und Barbara Wenner. Rowohlt Verlag, Reinbek 1992
Bio/Filmographie Thomas Kufus
1957 in Essen geboren, lebt in Berlin seit 1985 Mitarbeit an verschiedenen Filmprojekten und eigene Filme
1987 "Abschied auf Bühlerhöhe"(TV-Film, 45 min., SWF)
1988/89 Mitarbeit bei Känguruh Film, Berlin
1989 "Mein Krieg" (Dokumentarfilm, Co-Regie Harriet Eder, 90 min.)
seit 1990 eigene Produktion: zero-film (mit Martin Hagemann)
1991 "Blockade" (Dokumentarfilm, 93 min.)
Filmkritik
"Blockade" von Thomas Kufus
Eine Nabelschnur zur Gegenwart
Als sich die Geschichte zur wissenschaftlichen Disziplin wandelte, verbannte sie die Geschichten in einem zweifelhaften Bemühen um historische Wahrheit aus den Archiven, strich die Anekdoten aus den vielbändigen Standardwerken und trennte fortan fein säuberlich zwischen "Quelle" und "Analyse". Daß durch diese Vivisektion die Vergangenheit leblos und grau und ohne wirkliche Relevanz für die Gegenwart wahrgenommen wurde, verstand die Geschichtswissenschaft erst knapp 200 Jahre später. "Blockade" ist ein Dokumentarfilm, der diese unglückliche Spaltung zwischen dem Alltag und den großen, historischen Daten ohne spürbare Angstrengung aufhebt. Weil den kleinen Erlebnissen, persönlichen Entbehrungen und komischen Episoden während der 900 Tage dauernden Einkesselung Leningrads neben dem Ungeheuerlichen ihr Platz eingräumt wird, verknüpft dieser Film die Geschichte unmerklich und zugleich ganz eng mit dem Heute. Die Drähte scheinen unter dem Kopfsteinpflaster der leeren Boulevards und hinter jeder Fassade sichtbar zu werden. Thomas Kufus besuchte Leningrad im Winter 1991. Eine lange Eingangssequenz zeigt die prachtvolle, verfallene Stadt an der Newa aus der Vogelperspektive -es ist eine Annäherung von außen, der Anflug aus dem Westen, die Ankunft eines Deutschen, der zur Zeit des Nationalsozialismus noch nicht geboren war. Im betont zurückhaltend formulierten Kommentar rekapituliert der Regisseur Hitlers Strategie des Ostfeldzugs:
Leningrad, so war nach der Eroberung des westlichen Rußland vorgesehen, sollte "dem Erdboden gleichgemacht", seine gesamte Bevölkerung in den Hungertod getrieben werden. Als die Offensive der Wehrmacht im September 1941 vor den Toren der Stadt zum ersten Mal auf erbitterten militärischen Wiederstand stieß, begann die Blockade.Weder Hitler noch sonst jemand aus der deutschen Heeresleitung hatte Leningrad jemals gesehen; deutsche Soldaten kamen nur als Kriegsgefangene ins Stadtzentrum. Vielleicht war dieser Umstand 50 Jahre später der Anlaß, auf eine chronologische Darstellung zu verzichten. Wenn nämlich direkt auf die Eingangssequenz -mit Impressionen aus dem heutigen Leningrad und Ansichten auf die wunderschöne absolutistische Architektur -die eigentliche Schlußszene des Archivmaterials folgt -eine öffentliche Hinrichtung deutscher Offiziere -, so liegt darin auch ein formales Eingeständnis. Der Film gibt in keinem Moment vor, die Geschichte der Blockade ultimativ abhandeln zu wollen. Er überzeugt durch die bewußte Ablehnung, dem Unfaßbaren eine dramaturgische Logik zu unterstellen.
Sechs Zeitzeugen kommen in "Blockade" ausführlich zu Wort, darunter der Germanist Vladimir Admoni. Seine Erinnerungen -zum Beispiel an die politische Verwirrung ob des Nichtangriffs-Pakts oder an das naive Vertrauen der Sowjets in Hitler -fordern die ganze Konzentration des
Zuschauers. Weder die starre Kamera noch die Montage lenken von der plastischen Ernsthaftigkeit seiner Schilderungen ab -alles verweist auf seine Rede. Admoni spricht Deutsch, die Sprache derer, die dereinst seine Heimatstadt zerstören wollten, aber auch die Sprache des Filmemachers. Man hört diese Ambivalenz in jedem seiner Sätze -es ist eine eigentümlich akustische Klammer zwischen dem Kriegsverbrechen in Leningrad und dem Versuch seiner filmischen Bewältigung. Als Person wirkt der Intellektuelle Adomi wie der leibhaftige Gegenpart zu Tatjana Illesch, die zweite deutschsprachige Interviewpartnerin des Films, alle anderen Gespräche sind untertitelt. Tatjana Illesch rollt sich förmlich über den Tisch, wenn sie berichtet, wie sie sich eine Maus gekocht hat oder wie Hunde und Katzen entführt worden sind. "Wahrscheinlich sind sie gegessen worden", beschließt sie diese Geschichte, die sich -wie das Gros ihrer Erinnerungen -um's Essen, um fehlende Brotkarten, um Hunger drehen. Bei aller Dramatik sind ihre Erzählungen zuweilen ausgesprochen lustig -ob beabsichtigt oder nicht, das läßt der Film klugerweise offen. Wie die Lebensumstände während der Blockade die Leningrader fast ausnahmslos dazu brachten, menschlich auf die unmenschliche Situation zu reagieren -davon berichten die Befragten mit zum Teil erstaunlicher Offenheit. Auch, wenn es um Tabuthemen wie Kannibalismus geht. Die Erzählungen werden sensibel verwoben mit der Bilderebene des Blockade-Films, der nicht zuletzt wegen der vielen verschollen geglaubten Archivaufnahmen Beachtung verdient. Mit fast detektivischem Eifer haben Thomas Kufus und seine Mitarbeiterin Marina Nikiforowa im staatlichen russischen Archiv von Krasnogorsk 20 Rollen Filmmaterial ausgegraben, die bislang noch nirgendwo zu sehen waren. Es sind Bilder von Frauen am Wasserloch in der zugefrorenen Newa, von Massengräbern, von den Straßenbahnen, die im metertiefen Schnee versunken sind, und von der Evakuierung über das Eis des winterlichen Ladogasees. Am beeindruckendsten aber sind die Szenen, wo Passanten an erfrorenen Leichen vorbeigehen, die auf den Gehwegen liegengeblieben sind. Niemand weicht ihnen wirklich aus oder schenkt ihnen einen zweiten Blick. Wie Ikonen prägen sich diese historischen Aufnahmen ins Gedächtnis: Der Tod war in Leningrad offenbar normaler als das Leben -während der Blockade starben über eine Million Menschen. Das Archivmaterial wird keineswegs nur als Bebilderung der Interviews montiert -mal steht es ganz stumm für sich, mal werden die Szenen mit Originaltönen oder Musik zu "selbständigen" Zeitzeugen. Ein ähnliches Vertrauen in die Mitteilungsfähigkeit unkommentierter Bilder kennzeichnet auch die Aufnahmen aus dem heutigen Sankt Petersburg. Die Kamera erkundet zum Beispiel eine riesige Leningrader Schalterhalle, wo Postbeamte routiniert wie am Fließband Päckchen mit antik wirkenden Siegeln verschließen. Besonders für "Westler" ist derart charmante Vorkriegsästhetik auch eine visuelle Brücke in die Vergangenheit. Thomas Kufus hält seine Zuschauer für aufmerksam genug, solche Anspielungen und Zeitsprünge wahrzunehmen. Und deswegen ist "Blockade" nicht nur das "östliche" Pendant, sondern auch eine cinematographische Weiterentwicklung im Vergleich zu seinem vorherigen Film "Mein Krieg", der den Rußlandfeldzug aus der Perspektive deutscher Wehrmachtsoldaten zum Thema hatte. "Blockade" zeichnet sich durch seine subjektive Souveränität bei der filmischen Aufarbeitung eines hierzulande stark vernachlässigten Kapitels des Zweiten Weltkrieges aus.
Dorothee Wenner
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